Viele verlassen ihre Kirchgemeinde dann, wenn sie deren Schutz am dringendsten gebraucht hätten

Viele verlassen den Schutzraum einer Gemeinde gerade dann, wenn sie den Schutz am dringendsten nötig hätten. Dieser Gedanke ist mir schon oft durch den Kopf gegangen. Von Kevin DeYoung stammt der Satz: Das „Beharren“ der Heiligen ist nicht nur ein Geschenk Gottes, es ist ein Gemeinschaftsprojekt.

Darauf gibt es immer wieder berechtigte Einsprache. Lass mich zuerst versuchen, den Einwand zusammen zu fassen: Just der Ort, an dem Menschen Schutz suchen sollten, wird zum Platz der Bedrohung. Gemeindeglieder erfahren von ihren geistlichen Mitstreitern Unverständnis und Verletzungen. Das heisst, die Gemeinschaft kann zum Alptraum werden, gerade dann, wenn die Sünden mit frommen Argumenten kaschiert werden. Ich habe schon erlebt, dass eine Seite bereit war Vergebung zu üben und in Anspruch zu nehmen, die andere sich jedoch weigerte nur schon von einem „Fehler“ zu sprechen, geschweige denn von „Sünde“. Wo keine Verfehlung eingestanden wird, können auch keine Beziehungen wiederhergestellt werden

Francis Schaeffer schreibt in seinem letzten Buch „Die grosse Anpassung“:

Es mag einfältig scheinen, unsere Liebe mit der Entschuldigung und der Bitte um Vergebung zu beginnen, aber das Gegenteil ist der Fall. Nur so können wir nämlich die Gemeinschaft wiederherstellen, sei es zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kind, innerhalb einer christlichen Gemeinde oder zwischen den einzelnen Gemeinden. Wenn wir den anderen nicht genug geliebt haben, sind wir von Gott aufgefordert, hinzugeben und zu sagen: ‘Es tut mir leid … es tut mir wirklich leid.’ Wenn ich nicht bereit bin, ‘es tut mir leid’ zu sagen, wenn ich jemandem Unrecht getan habe – und besonders, wenn ich ihn nicht geliebt habe –, dann habe ich noch nicht einmal darüber nachzudenken begonnen, was für die Welt sichtbare christliche Einheit bedeutet. Dann kann sich die Welt mit Recht fragen, ob ich überhaupt ein Christ bin. Und, lassen Sie es mich noch einmal betonen, es steht noch mehr auf dem Spiel: Wenn ich diesen einfachen Schritt nicht tun will, hat die Welt das Recht zu bezweifeln, dass Jesus von Gott gesandt war und dass das Christentum wahr ist. Wieweit haben wir bewusst so gehandelt? Wie oft sind wir unter der Leitung des Heiligen Geistes zu Christen in unserem Kreis gegangen, um ihnen zu sagen: ‘Es tut mir leid’? Wie viel Zeit haben wir aufgewendet, um die Verbindung mit Christen in anderen Kreisen wiederherzustellen und ihnen zu sagen: ‘Ich bereue, was ich getan, was ich ausgesprochen oder was ich geschrieben habe’? Wie oft ist eine Gruppe nach einem Streit zu einer anderen Gruppe gegangen und hat gesagt: ‘Es tut uns leid’? Dieses Verhalten ist so wichtig, dass es tatsächlich ein Teil der Evangeliumsverkündigung selbst ist. Sichtbar praktizierte Wahrheit und sichtbar praktizierte Liebe gehen mit der Verkündigung der frohen Botschaft von Jesus Christus Hand in Hand. Ich habe in den Auseinandersetzungen unter wahren Christen in vielen Ländern eines beobachtet: Was wahre christliche Gruppen und einzelne Christen trennt und voneinander scheidet – was über 20, 30 oder 40 Jahre hinweg (oder über 50 bis 60 Jahre im Gedächtnis der Söhne) dauernde Bitterkeit hinterlässt – ist nicht die Frage der Lehre oder des Glaubens, an der sich der Streit entzündete. Immer ist es der Mangel an Liebe und die hässlichen Worte, mit denen wahre Christen einander während des Streites bedachten. Die bleiben im Gedächtnis hängen. Im Laufe der Zeit erscheinen die sachlichsten Gegensätze zwischen den Christen oder den christlichen Kreisen nicht mehr so scharf wie zuvor, es bleiben aber die Spuren jener bitteren, hässlichen Worte, die in einer – wie wir meinten – berechtigten und sachlichen Diskussion gefallen sind. Genau darüber aber – über die lieblose Haltung und die harten Worte in der Kirche Jesu Christi, unter wahren Christen – rümpft die nichtchristliche Welt die Nase. Könnten wir, wenn wir als wahre Christen einander widersprechen müssen, einfach unsere Zunge hüten und in Liebe sprechen, so wäre die Bitterkeit in fünf oder zehn Jahren vorbei. So aber hinterlassen wir Narben – einen Fluch für Generationen. Nicht nur ein Fluch innerhalb der Kirche, sondern ein Fluch in der Welt. In der christlichen Presse macht es Schlagzeilen, und manchmal kocht es in die weltliche Presse über – dass Christen solch hässliche Dinge über andere Christen sagen. Die Welt schaut zu, zuckt die Achseln und wendet sich ab. Sie hat inmitten einer sterbenden Kultur nicht einmal den Funken einer lebendigen Kirche gesehen. Sie hat nicht einmal den Ansatz dessen gesehen, was nach Jesu Worten die überzeugendste Apologetik ist – sichtbare Einheit unter wahren Christen, die doch Brüder in Christus sind. Unsere scharfen Zungen, der Mangel an Liebe unter uns, verwirren die Welt zu Recht – weit mehr als die notwendigen Hinweise auf Unterschiede, die es zwischen echten Christen geben mag.“ (S. 199-200)

Das ist die eine Seite. Es gibt jedoch noch eine andere, die mich zu diesem Statement veranlasst hat. Auch diese ist mit bald 40 Jahren Freud‘ und Leid‘ innerhalb der Gemeinschaft einer Gemeinde verbunden. Ich habe unzählige Menschen die Gemeinde verlassen sehen. Die Gründe, sich von der Gemeinschaft zurückzuziehen, sind vielfältig. Drei Szenarien:

  • Die einen haben, wie Johannes das ausdrückt, „die Welt liebgewonnen“. Sie sind so am Diesseits orientiert, dass ihre Prioritäten mit der Zeit lauter sprechen als ihr Bekenntnis. Über die Jahre schwimmen sie buchstäblich mit Arbeit und Freizeitbeschäftigungen davon.
  • Andere leben im Widerspruch zu Gottes Normen, zum Beispiel in sexuellen Sünden. Sie wissen innerlich um die zerstörerische Kraft ihres Lebensstils, wollen dies ändern, können aber mit der Zeit nicht mehr. Irgendwann – entschuldige den Ausdruck – spült es sie hinaus.
  • Wieder andere gehören beanspruchen über Jahre Leitungspositionen. Irgendwann widerrufen sie ihr Bekenntnis und kehren der Gemeinde – oft in grosser Hast – den Rücken.

Immer wieder kommen mir die Stellen aus dem Hebräerbrief vor Augen: Wir sind zu grosser Wachsamkeit aufgerufen, um nicht abzugleiten. Es geht um das wichtigste, nämlich um eine grosse Errettung (Hebr 2,1-4). Diese Wachsamkeit gilt auch gegenseitig. Wir sollen achtgeben, ob jemand ein „böses, ungläubiges Herz“ hat und einander jeden Tag ermutigen (Hebr 3,12-13). Wir sollen uns davor fürchten, dass jemand nicht in die ewige Ruhe eingeht und darum kämpfen (Hebr 4,1+11). Es gibt Menschen innerhalb der Gemeinschaft, die alle Vorzüge des künftigen Zeitalters schon genossen haben und sich dann abwenden. Sie gleichen einem Stück Land, das Regen empfängt, und Dornen und Disteln trägt (Hebr 6,4-8). Wer den Sohn Gottes mit Füssen tritt, soll sich fürchten. Denn die Ablehnung des rettenden Opfers wird Vergeltung nach sich ziehen (Hebr 10,26-31). Seht also zu, dass ihr nicht widerstrebt. Wir werden dem nicht entkommen, der uns auf diese Art warnt (Hebr 12,25-29). Darum sollen wir die Zusammenkünfte nicht verpassen, sondern einander auf dem Weg ermutigen (Hebr 10,24-25). Ich persönlich habe diese Ermutigung am stärksten dann erfahren, als ich a) Sünden bekannte, b) zurechtgewiesen wurde, c) die Ältesten mich an einer Wendestelle des Lebens mit Öl salbten (Jak 5,14). Alle drei dieser Situationen waren im Moment unangenehm und von mir lieber vermieden.

Lass mich das mit einer Herde vergleichen: Der Alltag in einer Herde ist hart. Da gibt es Futterneid, Kämpfe, Wunden. Kevin meint zu Recht: In der Gemeinde Gottes gibt es nur zwei Sorten von Menschen – gerechtfertigte Sünder und sündige Sünder. Nur zu gern nehmen einige Reissaus und weiden auf vermeintlich saftigeren Wiesen. Doch Achtung: Es kommt auf den Schutz des Hirten an! Nicht die Herde zählt, sondern der Hirte. Der Aufenthalt ausserhalb seines Schutzbereiches ist lebensgefährlich. Lieber mit einigen Narben auf der Ziellinie anlangen, als ausserhalb zerrissen zu werden.

Die herausforderndste Ermahnung stammt aus der Feder von Dietrich Bonhoeffer (Gemeinsames Leben, 1935, S. 23-26):

Gemeinschaft ist von Gott geschaffene Realität. Voraussetzung zum Er-Leben dieser Realität ist der Zerbruch unserer Wunschbilder von Gemeinschaft:

Unzählige Male ist eine ganze christliche Gemeinschaft daran zerbrochen, dass sie aus einem Wunschbild heraus lebte. … Die grosse Enttäuschung über die Andern, über die Christen im Allgemeinen und, wenn es gut geht, auch über uns selbst, muss uns überwältigen, so gewiss Gott uns zur Erkenntnis echter christlicher Gemeinschaft führen will. … Wer seinen Traum von einer christlichen Gemeinschaft mehr liebt als die christliche Gemeinschaft selbst, der wird zum Zerstörer der christlichen Gemeinschaft. … Wer sich das Bild einer Gemeinschaft erträumt, der fordert von Gott, von dem Andern und von sich selbst die Erfüllung.

Wer Klage gegen eine Gemeinschaft erhebt, ruft Bonhoeffer daher zu einer Selbstprüfung auf:

Wer an einer christlichen Gemeinschaft, in die er gestellt ist, irre wird und Anklage gegen sie erhebt, der prüfe sich zuerst, ob es nicht eben nur sein Wunschbild ist, das ihm hier von Gott zerschlagen werden soll, und findet er es so, dann danke er Gott, der ihn in diese Not geführt hat. Findet er es aber anders, dann hüte er sich doch, jemals zum Verkläger der Gemeinde Gottes zu werden; sondern erklage viel mehr sich selbst eines Unglaubens an, der bitte Gott um Erkenntnis seines eigenen Versagens und seiner besonderen Sünde, der bete darum, dass er nicht schuldig werde an seinen Brüdern, der tue in der Erkenntnis seiner eigenen Schuld Fürbitte für seine Brüder, der tue, was ihm aufgetragen ist und danke Gott.

Über Hanniel Strebel (PhD)

Hanniel Strebel, * 1975, Betriebswirt & Theologe, glücklich verheiratet, fünf Söhne, Blogger - Autor - Selbstlerner

3 thoughts on “Viele verlassen ihre Kirchgemeinde dann, wenn sie deren Schutz am dringendsten gebraucht hätten

  1. Ich habe den Eindruck das es hier um Erlebnisse in der (evangelischen) Landeskirche geht, die ich kaum nachvollziehen kann. Ich habe kaum etwas mit der Landeskirche zu tun – vielleicht oder sogar deshalb – habe ich

    Punkt 1 noch nie erlebt.

    Punkt 2 noch nie erlebt.

    Punkt 3 noch nie erlebt.

    Ich bin aber in Deutschland viel unterwegs und das auch in den unterschiedlichsten Gemeinden und Strömungen.

    Was ich erlebe ist eine zunehmende Liberalisierung und Verweltlichung der Gemeinde, egal welcher Konfession.

    Meine Erfahrung ist die:
    Bei den „Freikirchen“ ausserhalb der evg. Landeskirche treten die Menschen aus, weil sie mit dem „Pop Christentum“ ala Hillsong und Jesus Culture, nebst Irrlehren der Pfingstler und Charismatiker nichts zu tun haben wollen.

    Und die Menschen die ich kenne, die aus Gemeinden der evg. Landeskirche ausgetreten sind, wenden sich nicht von der Kirche ab, sondern von Pro-Homo Lehren und falschen Gottesbildern.

    Der Artikel ist mir demnach viel zu sentimental und geht an der Realität die ich erlebe völlig vorbei.

    1. Also ich habe Punkt 1 durchaus schon in Gemeinden erlebt, und zwar in sehr konservativen evangelikalen Gemeinden, wo die biblische Lehre über alles gestellt und wirkliche Seelsorge kaum praktiziert wurde. Das sind Gemeinden, wo man „de facto“ dazu gehört, wenn man bestimmte äußere Formen einhält. Offiziell wird das natürlich anders gelehrt. Aber wenn man nach dem Glauben gefragt wird, weiß man, was man antworten muss. Ob echtes Leben aus Gott im Sinne der neuen Geburt vorhanden ist, ist leider nicht immer klar.
      Das äußert sich dann leider bei dem einen und anderen auch dahingehend, dass die Gemeinde verlassen wird, weil andere, weltliche Interessen die Oberhand gewonnen haben. Eine echte, persönliche Lebens- und Liebesbeziehung zu dem Herrn bestand nie. Irgendwann hält so jemand es nicht mehr aus.
      Allerdings ist das auch ein Problem der Gemeinde selbst. Kann das hier jetzt nicht weiter ausführen. Was ich meine, geht in die Richtung „tote Orthodoxie“.

      Punkt 2 ist ganz ähnlich gelagert in solchen Gemeinden. Der Eine hat mehr die (weltliche) Karriere im Sinn (Punkt 1), andere haben ihre Schwachstellen woanders. Ich würde das nicht nur auf sexuelle Sünden begrenzen, sondern allgemein von einem „ausschweifenden Lebensstil“ reden, alles, was „Spaß“ macht, eben wie Ungläubige versuchen, ihrem Leben Sinn zu geben. Für viele gehört eine hedonistische Lebensweise dazu (vgl. Jes 22,13; 1Kor 15,32b). Gottes Wort nennt ja auch solche Begriffe in einem Atemzug: „Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung … Trinkgelage, Völlerei …“ (z.B. Gal 5,19-21).

      Nun, Schwachstellen haben wir alle, die einen hier, die anderen dort. Entscheidend ist m.E., ob diese Beziehung zum Herrn da ist. Dann merken wir, wenn wir in Gefahr sind oder auch schon gefallen, und es wird uns wieder zurechtgeholfen. Oft ohne Zutun Anderer oder gar der Gemeindeältesten. Der Herr selbst hilft uns durch Seinen Geist, der ja in uns wohnt, aber nur, wenn wirklich Leben aus Ihm existiert! Ja, es kann vorkommen, dass auch echte Gläubige die Hinweise und Warnungen des Herrn missachten und „tiefer rutschen“ bis dahin, dass sie die Gemeinde verlassen, und zwar in die Welt, also nicht die Gemeinde wechseln (das ist m.E. ein anderes Thema), oder per Gemeindezucht hinausgetan werden (müssen). Aber sie werden wieder zurecht kommen (möglicherweise i.V.m. einer anderen Gemeinde), weil der Heilige Geist stärker ist als der Geist der Welt. Der konnte uns für eine Weile gefangen nehmen, weil wir dem Geist Gottes nicht gefolgt sind und dieser in uns somit gedämpft wurde. Doch er wird letztlich wieder die Oberhand gewinnen. Manchmal geschieht das erst auf dem Sterbebett, aber es geschieht. Das ist meine Überzeugung.

      In der Tat (ich habe den Eindruck, dass der Autor darauf hinaus wollte): Wenn man Korrektur nötig hat und in dieser Hinsicht die Gemeinde braucht, sollte man nicht weggehen. Dann muss sie aber auch im Sinne einer biblischen Gemeinde funktionieren! Seelsorge muss praktiziert werden und darf sich nicht nur auf Gemeindezucht reduzieren und schon gar nicht durchweg erst dann aktiv werden, wenn es schon zu spät ist, sodass nur noch Letzteres in Frage kommt. Leider gibt es Gemeinden, wo das NICHT funktioniert. Nach meinem Eindruck müssen alle traditionellen Gemeinden, d.h. die schon mehr als 1 oder 2 Generationen „alt“ sind, hier aufpassen.

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