„Babylonische Gefangenschaft“ evangelikaler Christen?

Alternative zum Resümee des DEA-Symposiums in Bad Blankenburg (von Herbert Masuch)

Der Bericht darüber von Markus Till und die gemeinsame Verlautbarung der DEA hören sich recht positiv an. Anderer Meinung sind einige Kommentatoren. Den persönlichen Standpunkt dazu enthält mein Buchmanuskript „Von der Babylonischen Gefangenschaft evangelikaler Christen“. Das Manuskript haben evangelikale Verlage schon vor Jahren erhalten, aber leider bislang nicht publiziert. Inzwischen hat die evangelikale Entwicklung den Buchinhalt zunehmend aktualisiert und bestätigt. Im Schlussteil des Buchmanuskriptes ist als „ermutigender Heimkehr-Impuls“ ein „Bilanz-Gespräch einsichtiger Juden und Christen“ enthalten.
Dieses Gespräch füge ich hier mit der Anfrage hinzu, ob Sie seinem Inhalt angesichts der akuten evangelikalen Grundsatz-Differenzen zustimmen könnten?
 
Das Bilanz-Gespäch:
„Als emotionalen Ausklang des hierzulande sehr aktuellen Buchthemas wollen wir dieses Bilanzgespräch an den Wassern von Babel auf uns wirken lassen. Der herzbewegende Austausch einiger Gefangener lässt uns die tragischen Folgen der Babylonischen Gefangenschaft hautnah miterleben. Die Gesprächsszenen enthalteneine mahnende Symbolik für Exils gefährdete Christen.

Gottes Volk im Exil
Vergleichsbasis für das Evangelikal- Babylonische ExilDer Prophet Jeremia schildert in seinen Klageliedern eindrucksvoll, wohin es führt, wenn wir Gott beleidigen oder gar verlassen. Daher tun wir gut daran, uns jetzt einmal nach Babylon zu begeben. Wir wollen dort die trostlose Situation des versklavten Volkes Gottes näher kennenlernen. Dabei behalten wir im Auge, dass auch das neutestamentliche Gottesvolk, also die Gemeinde Jesu Christi, geistlich gesehen mancherorts in eine Babylonische Gefangenschaft geraten kann – oder schon ist -. Lassen Sie uns aus dem Elend der Exiljuden lernen, was es bedeuten würde, wenn wir Christen uns im geistlichen Exil befänden.
Ich lade Sie ein, sich jetzt mit mir zu einer Gruppe weinender Juden zu setzen. Es sind die Überlebenden des qualvollen Fußmarsches von Judäa nach Babylon. Während der ersten Monate im fremden Land ist ihnen die Härte ihres Gefangenendaseins so recht deutlich geworden. Sie haben ihre Harfen an die Weiden gehängt, die „an den Wassern zu Babel“ üppig wachsen. Anstatt froh zu singen, schluchzen sie, wenn sie an ihre weit entfernte Heimat, an Zion, denken (Ps 137,1-2).

Während wir uns leise zu ihnen setzen, werden wir selbst von ihrer Traurigkeit tief berührt. Dann aber fragen wir in die deprimierte Stimmung hinein:
Was sie denn in ihrer Gefangenschaft als besonders schmerzlich empfinden:

1. Der Verlust des Gelobten Landes Kanaan [1]
Nach längerem Schweigen ergreift ein weißhaariger Mann das Wort und sagt wehmütig: „Der Verlust des Gelobten Landes quält mich am meisten. Es war ein Land, darin Milch und Honig fließen, ein Land der Segnungen Gottes. Es fehlte uns an nichts. Wie oft haben wir uns am wohlschmeckenden Brot des Landes gestärkt. Es war Brot des Lebens für uns. Und hier in Babylon? Hier kauen wir an den Abfällen unserer Feinde herum. Wir begehren uns an dem zu sättigen, was die Schweine fressen. Aber niemand gibt es uns. Wir sind am Verhungern“.

„Und wie herrlich war es, sich am kristallklaren Wasser der Quellen Kanaans zu erquicken“, fährt ein jüngerer, unglücklich dreinschauender Jude fort. „Es war Wasser des Lebens für uns. Wir fühlten uns geborgen in Kanaan. Wir lebten in Frieden. Und jetzt? Die vielen Wasser Babylons sind bitter, faul, ungenießbar. Wir drängen uns mit unseren Schöpfgefäßen an löchrigen Brunnen, die doch rissig sind und kein Wasser geben“ (Jer 2,13).

„Was uns vom Gelobten Land geblieben ist, ist die Erinnerung“, ergreift der Weißhaarige wieder seufzend das Wort. „Aber zwischen Kanaan und uns liegen nun Welten. Wir sind sehr weit – unerreichbar weit von Zion und seinem Wohlstand entfernt. Wir haben, sage und schreibe, alles Gute, was wir einmal besaßen, verloren (Offb 3,17). Darum weinen wir, wenn wir an Zion denken“.
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Christen, die ihr geistliches Kanaan verloren haben, und sich im Babylon dieser Welt ihren Lebensdurst zu stillen versuchen, wird es genauso ergehen…

2. Der Verlust der Gegenwart Gottes

„Der Verlust der Gegenwart Gottes bekümmert mich noch viel tiefer“, äußert sich ein etwas abseits sitzender Mann mit zerzaustem Bart. „Ich bin Priester gewesen und habe Gottes Nähe während der Anbetung im Heiligtum oft verspürt. Mehrmals habe ich im Amt des Hohepriesters sogar ins Allerheiligste eintreten und Gott ganz nahe sein dürfen. Ich sage euch: Etwas Größeres und Heiligeres und Kostbareres als in der Gegenwart des Allerhöchsten zu sein, gibt es nicht“.
Während er bewegten Herzens schweigt, fließen Tränen in seinen aus Trauer zerrauften Bart. „Und jetzt?“, schluchzt er; „das Haus des Herrn ist verbrannt… Die Gesetzestafeln sind zertrümmert. In Babylon haben wir kein Allerheiligstes mehr. Keinem von uns ist es möglich, sich Gott noch zu nahen; niemand kann hier vor sein Angesicht treten. Wir haben das Allerkostbarste, die Gegenwart Gottes, verloren. Geblieben ist uns nur die Wehmut, die Erinnerung und… dieses schwache, symbolische Zeichen“.
Tief ergriffen erhebt sich der Priester von der Erde. Dann wendet er sich in Richtung Jerusalem, der heiligen Stadt. Während alle gespannt auf ihn blicken, neigt er sein ergrautes Haupt ehrfurchtsvoll bis an den Boden. Das tut er dreimal. Dabei murmelt er jedes Mal vor sich hin: „Du Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, du Gott Israels, erbarme dich unser“.

Danach blickt er um sich und ruft entschlossen: „Meine Brüder, tut es ebenso. Gott ist zwar ferne von uns. Doch wenn ihr beten wollt, dann wendet euch in Richtung Jerusalem und…“ Seine Stimme erstickt schier vor Schmerz. „Nein, wir haben keinen Tempel und kein Allerheiligstes mehr“, stammelt er. „Aber tut es dennoch, Brüder! Verneigt euch davor. Eure Handlung wird euch und alle, die es sehen, daran erinnern, was wir verloren haben, was wir einmal besaßen“.
Da kommt Bewegung in die Runde der vor sich hin grübelnden Juden. Einer nach dem anderen erhebt sich vom Boden. Und dann verneigen sie sich alle zugleich tief und ehrfürchtig in Richtung Jerusalem – einmal – zweimal – dreimal und immer wieder und wieder.
Plötzlich ertönt eine schroffe Stimme aus dem Hintergrund: „Sehr eindrucksvoll, euer Zeremoniell, ihr Ausländer“, ruft ein Babylonischer Aufseher, der sie beobachtet hatte. „Macht nur weiter so. Aber nehmt jetzt die Harfen von den Weiden und singt uns einige eurer schönen Tempellieder und … werdet fröhlich dabei“. Alle schweigen. Dann antwortet der ehemalige Priester mit zitternder Stimme: „Wie können wir in unserem Heulen fröhlich sein. Und wie können wir des Herrn Lied singen in fremdem Lande! (Ps 137,3-6).

Alle Gefäße, die wir im Gottesdienst zu gebrauchen pflegten, habt ihr hierhergebracht und in das Haus eurer Götter geschleppt. Aus ihnen berauschen sich eure Vornehmen bei ihren Götzenfesten“. Feierlich verneigt er sich noch einmal gen Jerusalem und sagt dann wie zu sich selbst: „Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht Jerusalem lasse meine höchste Freude sein“ (Ps 137,3-6).
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Christen im geistlichen Babylon werden solches im übertragenen Sinn ganz ähnlich erleben… Da gibt es etliche, die etwa in einem Großzelt mit Billy Graham zu Jesus fanden. Beim Ruf nach vorne unter den Liedklängen „So wie ich bin, so muss es sein; nicht meine Kraft, nur Du allein…“ hatte der Heilige Geist sie zutiefst ergriffen und mit Heilsgewissheit beschenkt. Auch in ihrer Gemeinde war der frohe, erweckliche Geist zunächst noch zu spüren. Aber dann erlebten sie manches vergebliche Ringen mit eigenen Schwächen und Sünden. Es gab ein Fallen und Wiederaufstehen, aber auch die ungestillte Sehnsucht nach Sieg. Doch in der Gemeinde wurde zwar die Vergebungsgnade, aber selten oder nie die Sieges- und Überwindergnade durch Christus in uns bezeugt. Beim Heiligungsstreben in eigener Kraft gelangten sie dann fast unmerklich in die „Babylonische Gefangenschaft“ evangelikaler Christen. Statt „mit Freuden vom Sieg“ durch die Überwindergnade werden hier häufig Klagelieder über das eigene Versagen gesungen. 

3. Der Verlust der Freiheit
„Der Verlust der Freiheit lässt mich schier verzweifeln!“, ruft ein kräftig aussehender junger Jude impulsiv aus. Alle schauen scheu zum babylonischen Aufseher hin. „Setzt euch nur wieder“, beschwichtigt dieser überlegen lächelnd, „ich höre euch gern zu. Morgen beim Sonnenaufgang geht’s wieder rund. Dann werdet ihr Ziegelsteine schleppen. Das Ischtar-Tor und die Hängenden Gärten am Königspalast müssen endlich fertig werden. Aber jetzt sprecht weiter. Ganz ungeniert. Ich verrate euch nicht“.
Der Aufseher tritt in ihren Kreis und setzt sich als erster. Nur der junge Jude bleibt noch stehen und spricht den Babylonier an: „Es ist mir unerträglich, euch wie ein Sklave gehorchen zu müssen. Im Gelobten Land war ich frei. Niemand wollte und durfte mich zu etwas zwingen – nicht einmal Gott. Ich konnte ihm freiwillig dienen. Und jetzt!?“ schreit er förmlich auf. „Ich möchte lieber tot sein als leben. Ich bin Tyrannen ausgeliefert. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich – das muss ich tun! Unser jüdisches Gesetz erwartet zwar von mir, das Gute zu tun. Aber ihr zwingt mich, das Böse zu tun. Das Wollen zum Guten habe ich wohl, aber hier – in Babylon – bin ich euer Sklave. Ich elender Mensch, wer wird mich aus dieser Knechtschaft erlösen?“ (Rö 7,14-24).

Während er seine Hände verzweifelt gen Himmel streckt, erhebt sich wieder der Priester. Mit gesenktem Haupt und geschlossenen Augen klagt er laut: „Schwer ist das Joch meiner Sünden. Sie sind mir auf den Hals gekommen, so dass mir alle meine Kraft vergangen ist. Der Herr hat mich in die Gewalt derer gegeben, gegen die ich nicht aufkommen kann… Mit dem Joch auf dem Hals treibt man uns… Knechte herrschen über uns, und niemand ist da, der uns von ihrer Hand errettet “ (Klgl 1,14; 5,5.8.13) [i].

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Bereits bei Christen im geistlichen Ausstand hört man Klagelieder über die Diktatur der Sünde. Sie leiden darunter, dass sie von ihren Leidenschaften beherrscht werden. Sie sehnen sich nach Freiheit, werden aber dauernd gezwungen, Böses zu tun. Im Römerbrief, Kapitel 7, finden sie ihren Sklavenzustand treffend beschrieben. Wie die Juden in Babylon sehen sie keinen Weg, wie sie frei werden können. Die fremde Macht – Böses, Versuchung, Sünde – ist ihnen zu stark. Darum haben sie sich damit abgefunden, Besiegte und nicht Sieger zu sein. Sie hoffen auf eine weit entfernte Zeit, in der sie wieder frei werden – nämlich im Himmel.

 4. Der Verlust der Identität

„Der Verlust meiner Identität ist für mich noch schwerer als das zu ertragen“, meldet sich ein anderer Jude zu Wort. „Ich war Diener im Hause unseres Königs Zedekia. Mit Freuden habe ich seine Befehle entgegengenommen und ausgeführt. Es war unser König – mein König -, darum habe ich seine Autorität gern akzeptiert. Glaubt mir, es war für mich beruhigend, zur rechten Zeit das Rechte gesagt zu bekommen. So wusste ich stets, was ich zu tun hatte. Ich identifizierte mich mit seinen Anordnungen. Meines Königs Autorität verlieh mir meine persönliche Identität. Nicht wahr, Brüder, ihr stimmt mir zu: Israel braucht einen König, einen Führer. Es braucht Ordnungen und Befehle, um ein Volk zu sein, um überleben zu können.“
Der königliche Diener hatte sich in Eifer geredet. Daran, dass alle nickten, merkte er, dass sie ihm zustimmten. Das ermutigte ihn, weiter zu sprechen: „Aus diesem Grunde standen in Jerusalem das Königshaus und das Haus Gottes dicht beieinander“, kam ihm der Priester jedoch zuvor. „Dadurch wurde deutlich, dass die Herrschaft Gottes und die Herrschaft des Königs zusammengehörten. Grundsätzlich war Israels Regierungsstruktur eine theokratische. Gott hat seinem Volk zwar Könige gegeben, doch waren diese beauftragt, nach seinem Recht zu regieren und auf seine Grundsätze zu achten.“
„Du sprichst die Wahrheit, Bruder“, rief der Diener erregt. Dann sprang er auf und schrie es über den Fluss: „Und heute? Israel hat keinen König mehr. Sein Thron ist zerbrochen. Sein Palast ist verbrannt. ‘Die Tore unserer Königsstadt sind tief in die Erde gesunken. Gott hat ihre Riegel zerbrochen und zunichte gemacht. Ihr König und ihre Fürsten sind unter den Heiden, wo sie das Gesetz nicht ausüben können… Der Gesalbte des Herrn, der unser Lebensodem war, ist gefangen worden in ihren Gruben; wir aber dachten: In seinem Schatten wollen wir leben unter den Völkern’“ (Klgl 2,9; 4,20).

„Ja, es gibt ihn noch – unseren König“, murmelt der Diener vor sich hin. „Doch auch er ist nicht frei. Es erging ihm schlimmer als uns. Man hat ihm beide Augen ausgestochen (Jer 52,11). Als Blinden hat man ihn hierher nach Babel geführt. Er befindet sich zwar noch in einem Königspalast. Doch fungiert er als Siegestrophäe des Königs von Babel – unterdrückt, entehrt, entrechtet. Israel hat keinen Mittelpunkt, keine Autorität, keinen Führer mehr. Sein König ist eine Marionette. Israel ist kein Volk mehr. Wer sind wir denn noch, Brüder? Wir haben unsere Identität, unsere Würde verloren!“

Vehement greift der herrenlose Diener nach einem verdorrt liegenden Weidenstock und wirft ihn weit in den Fluss. „Ohne herrschfähigen König gleichen wir diesem Holzstück, Brüder! Steuerlos, ziellos, sinnlos treiben wir dahin – der babylonischen Strömung ausgeliefert. Leben wir eigentlich noch? Sind wir noch Gottes Volk? Sind wir nicht ohne unseren König schon tot?

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Christen, die sich in der babylonischen Gefangenschaft befinden, verlieren ihre Identität mit ihrem inneren Menschen. Wir erwähnten bereits, dass unser Ich im Reich der menschlichen Persönlichkeit gleichsam königliche Kompetenzen besitzt. Wie von einem Königsthron entscheidet es, was im Bereich seines Leibes, der Seele und des Geistes geschieht. Um richtig regieren zu können, ist das Ich jedoch – genauso wie die Könige Israels – auf das elementare Grundgesetz Gottes angewiesen. Daran kann es sich in allen Rechtsfragen seines eigenen Königreiches orientieren. In der babylonischen Gefangenschaft hat das menschliche Ich seine Verbindung mit Gott jedoch verloren. Der Tempel der Nähe Gottes ist verbrannt und zerstört. Es wird nicht mehr von Gottes Regierungsprinzipien geleitet, sondern von der babylonischen Handlungsweise dominiert. Das Ich ist durch die Macht der Sünde gleichsam entthront worden. Es ist unfähig, das Reich seiner Gedanken, Gefühle und Triebe unter Kontrolle zu halten – es zu regieren.

In Bezug auf geistliche Belange tappen in Babylon befindliche Christen völlig im Dunkeln. Der Heilige Geist hat sich zurückgezogen, darum fehlt ihnen das nötige Licht. Wie der König Zedekia die leiblichen Augen verlor, so haben sie ihre geistlichen Orientierungsorgane – die inneren Augen – verloren (Mt 6,22). Sie sind blinde Könige, entthronte Könige in ehernen Ketten. Die ihnen untergebenen Persönlichkeitskräfte haben keinen kompetenten Herrscher mehr. Daher werden sie von fremden Mächten – den babylonischen Tyrannen – beherrscht und gezwungen.
Unter solchen Bedingungen gibt es im Persönlichkeitskern der Christen weder Ordnung noch Frieden noch geistliche Identität. Auch sie werden wie jenes Stück Holz von den Strömungen Babylons orientierungslos davon getrieben.

5. Der Missbrauch der Intelligenz

Ein älterer Jude ergreift das Wort: Der Missbrauch unserer Intelligenz schmerzt mich ebenso wie der Verlust des Königs“, beteuert er. „Ich war stolz auf meine drei Söhne Hananja, Mischael und Asarja. Sie waren nicht nur schön von Gestalt, sondern begabt, weise, klug und verständig (Dan 1,4). Ich ließ sie studieren und hoffte, dass sie den König Judas einmal beraten würden“.
Der immer noch vornehm wirkende Vater seufzt tief. „Und was musste ich erleben?“, fährt er stockend fort. „Der oberste Kämmerer Nebukadnezars, Aschpenas, hat sie mir schon bei der ersten Deportation[ii] aus dem Hause geraubt. Und nicht nur sie; fast alle begabten, tüchtigen und fähigen Leute – Israels Elite, unseren Stolz, unsre Zukunft – hat er mit nach Babel genommen“.

Der babylonische Aufseher unterbricht ihn selbstbewusst mit den Worten: „Du hast recht, Jude. Eure Intelligenz ist hervorragend. Die können wir in Babel sehr gut gebrauchen. Aber… hast du deine drei Söhne nicht schon irgendwo in Babel entdeckt?“
Der Vater steht erregt auf und beginnt sich den Bart zu raufen. „Ja, ich habe sie in Babel gesucht und auch gefunden“, stößt er aus. „Oh, hätte ich es nur nicht getan! Im Regierungspalast Nebukadnezars fand ich sie – zusammen mit Daniel, der die Weisheit eines Königs besitzt. Ja, es geht ihnen rein äußerlich glänzend. Sie haben Karriere gemacht. Meine Söhne wollten mich in ihren Villen aufnehmen. Aber…“. Er schaut um sich und ruft entschlossen: „Ich bleibe bei euch, Brüder! Ich will mit euch die Schmach Israels tragen, statt im Regierungsviertel Babels wohnen zu müssen. Ich kann es nicht mit ansehen, meine Brüder: Israels Elite, seine Intelligenz steht unserem Unterdrücker zu Diensten. Nebukadnezar hat rasch erkannt, dass ‘sie in allen Sachen zehnmal klüger und verständiger sind als alle Weisen in seinem Reich’(Dan 1,20). Nun spannt er sie ein; nun missbraucht er sie für seine Machtgelüste, seinen Welteroberungs-Wahn. Es bricht mir mein Herz. Wann, o Gott, gibst du uns Juden unser Reich, unseren eigenen König zurück?“
Der Babylonische Aufseher springt auf und ruft: „Das geht zu weit, Jude! Wenn du rebellierst, bringen wir dich um. Wir haben die Gewalt über euch. Ihr müsst uns gehorchen und dienen – samt eurer respektablen Intelligenz, verstehst du! Wir sind die Sieger und ihr seid die Besiegten“.

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Bei Christen, die in Babylon leben, wird ebenfalls die glänzendste Begabung von Satan missbraucht. Weil im Reich ihrer Persönlichkeit Gottes Geist nicht vorherrschend ist, regiert ein fremder Geist in ihrem Herzen. Die hervorragende Gabe der Intelligenz wird jetzt dazu eingesetzt, um Gottes Wort, seine Autorität und sogar seine Existenz in Frage zu stellen. In Babylon herrscht die Diktatur der reinen Vernunft. Sie bemächtigt sich der Literatur, der Medien, der Kunst, des Bildungswesens, ja sogar der theologischen Lehrstühle und der Kanzeln.
Christen, die sich bereits willig von Jesus Geist leiten ließen, sehen zwar ihr Dilemma und leiden darunter, wie damals die Juden. Aber in Babylon ist ihr Ich in der Gefangenschaft. Ihr Geist wird von den Kräften der Seele – Vernunft, Gefühl und Wille – beherrscht. Wie vor ihrer Bekehrung tun sie wieder den Willen des Fleisches und der Vernunft (Eph 2,3). Auf ihre fatale Situation können sie jedoch in zweifacher Weise reagieren: Entweder sie passen sich weiterhin dem babylonischen Denk- und Lebensprinzip an oder aber… sie schreien wieder zu Gott – wie jener Jude – und beginnen auf Befreiung zu beten.

6. Die eigenen falschen Propheten

Die eigenen falschen Propheten vergrößern unser babylonisches Elend noch viel mehr“, stößt jetzt ein dunkelhäutiger Gefangener seufzend hervor. „Ich bin Ebed-Melech, der Mohr. Wie ihr wisst, konnte ich den Propheten Jeremia in letzter Minute aus dem Brunnen ziehen und vor dem Tode retten. Nach Gottes Zusage habe ich zusammen mit euch mein Leben wie eine Beute davongebracht (Jer 39,18). In Jerusalem konnte Jeremia den falschen Propheten – wenn auch unter Lebensgefahr – noch entgegentreten. Doch hier in Babylon haben diese Verführer freie Hand. Sie haben sich dem babylonischen Wesen und Geist bereits angepasst. So betreiben sie die in Babylon übliche freie Sexualität mit den Frauen ihrer Nächsten (Jer 29,23). Durch ihre Lügenbotschaften beruhigen sie unsere Gewissen und ermutigen uns, so gesetzlos wie sie selber zu leben. Sie predigen, dass Gott uns gnädig sei, ohne dass wir Buße tun, um sein heiliges Wort zu befolgen“.

Während der letzten Worte Ebed-Melechs hat der Priester sich vom Boden erhoben. Jetzt reckt er wie ein Prophet seine Hand aus und sagt: „Brüder, ich möchte Ebed-Melechs Rede unterstützen. In Jerusalem habe ich Jeremia leider auch nicht geglaubt, sondern seinem Dienst widerstanden. Aber als ich auf dem Wege hierher am Verdursten war, da erkannte ich, dass Gott durch ihn zu uns sprach. Daraufhin habe ich meine Sünde bereut und Gott um Gnade gebeten. Aber die meisten meiner Brüder hier in Babel verachten Jeremia weiterhin und hören nach wie vor gerne Lügen (Hes 13,19). Vor ihnen warne ich euch. Denn Propheten, die nur Gutes weissagen und nicht zur Umkehr rufen, sind zumeist falsche Propheten“.

„Der Herr segne dich! Bruder“, ergreift Ebed-Melech wieder das Wort. „Du ermutigst mich, euch jetzt folgenden Bußruf aus Jeremias Brief zu zitieren: ‚So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, nicht betrügen. Wenn ihr mich aber von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr!‘ (Jer 29,13.14).

Gott erwartet, dass wir uns demütigen, dass wir sein Angesicht aufrichtig suchen. Erst dann, hört ihr! erst dann wird er sich von uns finden lassen. Eine Rückkehr ins Gelobte Land ohne Umkehr gibt es nicht. Auch ich sage euch: Die billige Gnade ohne Buße lehren nur falsche Propheten!

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Christen im geistlichen Ausstand lehnen ebenfalls Buß- und Gerichtspredigten ab. Babylon ist das Gelobte Land der falschen Propheten. Seine Bewohner werden routinemäßig getröstet und bedingungslos seliggesprochen. Prediger, die von einer ewigen Verdammnis oder gar von der Hölle reden, werden der Angstmacherei bezichtigt und ausgegrenzt. Man dürfe aus der Frohbotschaft keine Drohbotschaft machen, wird ihnen unterstellt. Kranken und Sterbenden müsse man in jedem Falle den Himmel zusprechen.

Bedingungen für ihre ewige Seligkeit, wie Reue und persönlichen Glauben, gäbe es im Neuen Bund nicht, so wird mit Nachdruck gelehrt. Wenn Gott die Liebe ist, dann könne er doch niemanden ewig verdammen. Und für absolut Verstockte gäbe es zudem noch Rettung in fernen Äonen.

So und ähnlich argumentieren im geistlichen Babel die falschen Propheten. Ihre Sprache ist weich und geht sanft ein. Aber sie verführen das Volk, das sich gerne besänftigen lässt und sich doch nicht ändern will. Denn sie verhindern durch ihre Lügenpredigt, dass die Menschen vor dem heiligen Gott und vor ihrer Sünde erschrecken. Daraufhin unterlassen diese es, sich ihrem Retter, Jesus Christus, bußfertig zuzuwenden und ihre Begnadigung konkret zu erleben. Menschen ohne Jesus im Herzen werden einst zu hören bekommen: Ich kenne euch nicht!

Mancherorts wird im Babylonischen Ausstand versteckt oder offen gelehrt, für Christen sei es unmöglich, jemals vom Glauben abzufallen und verlorenzugehen. Durch diesen falschen Trost wird suggeriert: Im Geiste zu wandeln sei zwar gut und richtig, aber nicht erforderlich zum ewigen Heil. Dabei unterschlägt man, dass Paulus ausdrücklich betont: „Denn wenn ihr nach dem Fleische lebt, dann werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, dann werdet ihr leben“ (Rö 8,13).


7. Gottes Schweigen in Babel

„Gottes Schweigen in Babel, das empfinde ich hier als das Schlimmste“, meldet sich jetzt eine Jüdin zu Wort. „Ich habe in Kanaan viel gebetet. Dabei habe ich Gottes Nähe gespürt. Ihr sollt wissen, dass sich während der Belagerung Jerusalems eine Handvoll gottesfürchtiger Jüdinnen heimlich zur Fürbitte trafen. Wir glaubten an die Reden Jeremias und flehten zu Gott um eine Bußbewegung unter dem verblendeten Volk. Allerdings blieben wir im Untergrund. Wir hatten Angst, uns öffentlich zu Jeremias Botschaft zu bekennen. Trotzdem erlebte ich oft, wie wunderbar Gott Gebete erhört.

Hier in Babylon scheint Gott mir jedoch beim Beten sehr fern zu sein. Es kommt mir vor, als habe er sich mit einer Wolke verdeckt, dass kein Gebet hindurch kann (Klgl 3,44). Daher frage ich mich manchmal, ob es überhaupt Zweck hat, noch weiterzubeten? Hinzu kommt, dass ich von meinem Sklavendienst sehr abgespannt bin. Ein Glück, dass wir Juden an den Zerstreuungen der Babylonier teilnehmen können. So ziehe ich nach Feierabend eine nette Abwechslung vor – ihr versteht, um mich zu entspannen!“

„Es wäre sehr schlimm für uns als Volk Gottes, wenn wir nicht mehr beten“, ergreift Ebed-Melech wieder das Wort. „Wie anders können wir Gott von ganzem Herzen suchen, wenn nicht im Gebet. Und wenn wir ihn nicht ernstlich suchen, dann werden seine Nähe auch nicht mehr erleben. Wenn wir nicht rufen, wird er nicht antworten. Wenn wir schweigen, dann schweigt Gott auch. Aber die Folge würde sein“ – ruft Ebed-Melech beschwörend in die Runde -, „dass wir aufhören würden, Volk Gottes zu sein, dass wir in Babylon untergehen würden – wir würden im Heidentum für immer versinken…“

„Davor bewahre uns der allmächtige Gott, der Gott, den unsere Väter anriefen, der Gott, der Gebete erhört“, unterstützt ihn der ergraute Priester. „Hört, was uns der Gnädige und Allmächtige durch Jeremia sagen ließ: ‘So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten: Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s auch euch wohl‘“ (Jer 29,7).

Hört ihr, Brüder und Schwestern: Wir sollen beten! Und wir müssen es tun. Nicht nur für uns, sondern auch für Nebukadnezar und seine Beamten – auch für diesen Aufseher hier! Unsere Hilfe kommt vom lebendigen Gott. Er kann sich sogar unseren Feinden offenbaren. Glaubt es, Brüder: Die Stunde unserer Heimkehr nach Kanaan kommt bestimmt. ‘Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschen’“ (Klgl 3,32-33).

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Die Christen im Heiligungs-Exil sollten ebenfalls erwachen und beten! Es mag sein, dass dunkle Wolken der Schuld sie von Gott trennen. Wenn sie zu ihm flehen, wird er die Wolkenberge durch den Wind seines Heiligen Geistes fortblasen. Sie sollten die weltlichen Zerstreuungen Babylons  (1 Joh 2, 15-17) fahren lassen und für ihre Peiniger beten. Sie sollten glauben, dass der Herr auch gestrauchelte Christen nicht ewig verstößt, sondern sich ihrer wieder erbarmen wird nach seiner großen Güte. Sie sollten vertrauen, dass er sich wieder finden lässt, wenn sie ihn von ganzem Herzen suchen, dass er hören wird, wenn sie zu ihm rufen. Denn:

„Wo ist ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die übriggeblieben sind von seinem Erbteil; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er ist barmherzig. Er wird sich unser wieder erbarmen und unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen“ (Mich 7,18-19).
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­­­Ende des Bilanz-Gespräches einsichtiger Juden und Christen als ermutigender Heimkehr-Impuls


[1]  Die Verschleppung Judas vollzog sich in zwei Phasen. Im Jahre 597 v.Chr. erfolgte unter König Jojakim die erste Deportation, bei welcher auch die Genannten nach Babel entführt worden waren. 587 v. Chr. geschah unter Zedekia die endgültige Verbannung Judas ins Babylonische Exil.


 

 

Dieser Blog-Beitrag von Herbert Masuch erschien zuerst auf Christus-Portal-Blog . Lies hier den Original-Artikel "„Babylonische Gefangenschaft“ evangelikaler Christen?".

Über Herbert Masuch

HERBERT MASUCH wurde 1929 in Ostpreußen geboren. Nach den Zusammenbruch des Dritten Reich erlebte er eine bewusste Umkehr zu Jesus Christus. Von 1954 bis 1958 studierte er am Theologischen Seminar St. Chrischona in der Schweiz. Es folgte ein mehrjähriger Dienst in der Essener Stadtmission. 1963 wechselte er als Evangelist in die Deutsche Zeltmission. Etwa dreißig Jahre lang war Masuch im In- und Ausland als Rufer zu Gott unterwegs. Auch durch die Mitarbeit beim Evangeliums-Rundfunk, die Veröffentlichung mehrerer Bücher und als Liedautor war er bemüht, die Frohe Nachricht von Jesus, dem Retter der Welt, zu bezeugen. Seit 1964 sind Masuch’s glücklich verheiratet und haben drei Kinder. Ehefrau Gretel war mit ihrem Mann viele Jahre missionarisch unterwegs. Heute wendet sich der ehemalige Evangelist überwiegend an Christen. Er bietet Hilfen an, die befreiende Botschaft „Christus in euch“ erstmals oder neu zu entdecken und zu verwirklichen. Diesem Anliegen dient auch seine dreibändige Buchreihe Lebensreformation (1994), die zugleich eine geschichtliche Analyse des jahrzehntelangen charismatischen Konfliktesherdes bietet.

3 thoughts on “„Babylonische Gefangenschaft“ evangelikaler Christen?

  1. Lieber Herbert,
    Beim Lesen Deines Beitrags werde ich an das alte Buch „….und ihre Lampen verlöschen“, das bei CLV als kostenloser Download verfügbar ist. Es handelt von einer Gemeinde, die äußerlich alles am Leben erhält aus der aber der Geist Gottes gewichen ist. Das Buch ist sehr erschreckend, aber lesenswert denn es beschreibt viel von der geistlichen Situation, die wir im Moment haben. Der“ Schein eines gottesfürchtigen Wesens“ wird leider immer mehr sichtbar. Dass das aber so ist wird selbst von einigen evangelikalen Leitern schön geredet.
    Vielen Dank für den Beitrag.

  2. Bei den Evangelischen und Evangelikalen gibt es kein Lehramt, daher kann dort jeder Pfarrer, jeder Theologe, jeder Gemeindeleiter lehren, was er will.
    Der Herr Luther hatte ja auch gemeint, jeder Christ könne die Bibel selber auslegen und den Zustand haben wir heute in einem Vollmaß.

    Freilich muss man heutzutage dazu sagen, dass bei den Katholiken das Lehramt unter Papst Franziskus auch nicht mehr das ist, was es einmal war. Der rüttelt auch an manchen grundlegenden Dingen herum und zwar so, dass sich viele seiner Bischöfe lehrmässig und praktisch nicht mehr an die katholische Lehre halten. Bei Papst Benedikt XVI. wäre das kaum denkbar gewesen.

    Der Weltgeist dringt eben mehr und mehr auch in die Kirchen ein und nimmt sie in Beschlag. Die Ungläubigen unterwandern die Kirchen und Gemeinden bis hin zu den höchsten Ämtern.
    Der Hauptgrund liegt darin, dass die Christen das Fleisch anbeten statt den Herrn, weil sie selbst noch vielfach im Fleisch leben. Demnach wird das, was gelebt wird. zur Grundlage einer neuen gottlosen Lehre und die Bibel interessiert nur noch soweit, als man sie für eigene Zwecke einsetzen und umbiegen kann.
    Vielleicht muss mal wieder eine Zeit der grossen Not kommen, damit die Menschen wieder ernsthaft nach Gott fragen. Dann wird auch die heutige Oberflächlichkeit der Christen, damit meine ich auch der Bekehrten, der Hallelujajodler u.a. hoffentlich auch wieder verschwinden. Wenn man nämlich so manche Gemeinden. Freikirchen über Jahre beobachtet, ist zumeist ein geistlicher Rückschritt zu sehen. was sich zum Teil auch schon in den modernen Liedern zeigt, die man da heute singt.

    1. „Bei den Evangelischen und Evangelikalen gibt es kein Lehramt, daher kann dort jeder Pfarrer, jeder Theologe, jeder Gemeindeleiter lehren, was er will.
      Der Herr Luther hatte ja auch gemeint, jeder Christ könne die Bibel selber auslegen und den Zustand haben wir heute in einem Vollmaß.“

      Nun machen es / sollten es die evangelischen Gemeinden wie die Beröer halten und anhand der Schrift nachprüfen. Damit kann dann kein Pfarrer / Theologe / Gemeindeleiter lehren was er möchte. Das setzt allerdings voraus, das jeder Christ selbst die Bibel auslegen können muss.

      Es ist auch gar nicht anders möglich. Wenn man ein zentrales Lehramt hat und nicht zufrieden ist wie Du jetzt mit dem Papst, dann legt man ja auch selber aus und kommt u.U. zu abweichenden Meinungen gegenüber der Zentralinstanz. Kurzum, dass was Du an der evangelischen Welt kritisierst machst Du ja selbst in der katholischen Welt – und das halte ich auch für erforderlich.

      Um mal die Brücke zu schlagen zum eigentlichen Artikel von Herrn Masuch:
      Gott wollte das „Königsamt“ im alten Israel nicht, sondern das Volk wollte einen König (wie die anderen Völker auch je einen haben). Gott wollte selbst „König“ jedes Israeliten sein. Das Volk bekam, was es wollte: Saul. Wir wissen aus den Samuel-Büchern, dass das nicht gut ausging. Gut, dass mit David eine Abschattung des kommenden und mit Salomo eine Abschattung des wiederkommenden Jesus eingesetzt worden sind.

      Es heißt im Artikel: „Gott hat seinem Volk zwar Könige gegeben, doch waren diese beauftragt, nach seinem Recht zu regieren und auf seine Grundsätze zu achten.“ Aus den Chroniken und den Königsbüchern wissen wir, dass das nur in den seltesten Fällen geklappt hat. Der König als zentrale „theologische“ Instanz hat i.d.R. nicht funktioniert („und er tat, was dem Herrn mißfiel“), und das Volk war nicht in der Lage, Korrekturnotwendigkeiten am Kurs zu erkennen oder gar durchzusetzen. Gott hat daher Propheten eingesetzt, die bei König und Volk nicht immer beliebt waren, die aber letztendlich den Umkehrkurs des Volkes vorbereiteten.
      Also: vorgesehen war die direkte Gottesbeziehung durch jeden Israeliten (und damit die Auslegungsfähigkeit der Gebote und Gesetze für jeden Israeliten), gefordert wurde das zentrale Amt (was gescheitert ist), Gott setzt zusätzlich Wächter und Propheten ein, und weist auf den kommenden König und Herrscher Jesus durch David und Salomo hin.

      Was also daraus lernen? Nun, das zentrale Lehramt funktioniert nicht, wenn die Gläubigen nicht auch selbst prüfen und auslegen (können / wollen / dürfen) und für notwendige Korrekturen sorgen. Luther war da also näher dran an den Ordnungen, die Gott für die Gemeinde (und vormals Israel) vorgesehen hat. Das schließt nicht aus, dass es in der Gemeinde einzelne Personen gibt, die Gott mit der Gabe der Lehre, des Wächteramts, der Prophetie ausgestattet hat.

      Ebenso kann es daher zu verschiedenen „Wahrnehmungen“ von einer Situation geben: einen eher von der „Einheit“ und dem Erreichten begeisterten Dr. Till (weil Einheit ja auch in der Bibel gefordert ist), dann die kritische Sichtweise auf den Zustand (weil die Arbeit an der Einheit nicht abgeschlossen ist, sofern es überhaupt dazu kommt, und die Differenzen m.E. einfach zu groß geworden sind) und die Mahnung von Herbert Masuch, wo es noch an der Einheit zwischen den Denominationen scheitert. Diese Vielfalt der Meinungen halte ich gar nicht mal für schlimm: im Grunde genommen sorgen sich alle um das Volk Gottes und ziehen von daher an einem Strang, auch wenn jeder an einem eigenen Strangzipfel zieht.

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