Ich habe einen weiteren der zahlreichen TGC-Essays zu theologischen Themen übersetzt. Entsprechend möchte ich die bisher übertragenen in lexikalischer Form hier sammeln. Aber nun zum jetzigen Essay:
Ein Essay von Carl Trueman. Übersetzung auf Grundlage der Creative Commons License with Attribution-ShareAlike (CC BY-SA 3.0 US). (Download als .pdf)
Definition
Als „Reformierte Theologie“ werden Glaubenssysteme der protestantischen Kirchen bezeichnet, die ihre Ursprünge auf das Werk der Reformatoren wie Huldrych Zwingli und Johannes Calvin zurückführen.
Zusammenfassung
Reformierte Theologie nahm ihren Anfang in der Reformation der Schweiz und stellt eine Reaktion sowohl auf den späten mittelalterlichen Katholizismus, wie auf die lutherische Theologie dar und bricht mit der letzteren in der Frage nach der Präsenz Christi im Mahl des Herrn. Konfessionell definiert wird sie durch die Three Forms of Unity (z.dt.: Drei Formulierungen der Einheit) und die Westminster Standards und unterstreicht die Genugsamkeit der Schrift und die Rechtfertigung aus Gnaden durch Glauben. Dadurch entstehen charakteristische Ansätze in der Christologie, den Sakramenten und der Haltung zu Politik, Kultur und Gottesdienst.
Der Begriff „Reformierte“ Theologie besitzt im gegenwärtigen Leben der Gemeinde und ihrer Theologie eine Bedeutungsvielfalt. Er kann verwendet werden, um die Ansichten jeglicher protestantischer Bewegungen zu beschreiben, die ein weitgehend anti-pelagianisches Heilsverständnis besitzen, wie z.B. die „Young, Restless and Reformed“ – Bewegung. Auf einer eher fachlichen Ebene bezieht sich die Bezeichnung auf protestantische Gemeinde, die sich am Bekenntnisstandard der Three Forms of Unity, den Westminster Standards oder (im Falle reformierter Baptisten) am zweiten Londoner Bekenntnis orientieren.
Geschichte
Die reformierten Kirchen führen ihre Ursprünge auf die Reformation in der Schweiz zurück, vor allem zur Reformation in Zürich unter der Leitung von Huldrych Zwingli (1484-1531). Zwinglis Reformation unterschied sich von Luther in ihrer Betonung auf die Schrift als die verbindende Regel für die liturgische Praxis (deswegen entfernten z.B. die Gemeinden in Zürich die Fensterbilder aus Bleiglas und entwickelten eine sehr einfache wortzentrierte Art des Gottesdienstes) und in seiner Ablehnung einer Realpräsenz im Abendmahl. Dieser letzte Punkt führte 1529 in Marburg zu einem formellen Bruch zwischen Luther und Zwingli, ein Ereignis, dass reformierte und lutherische Gemeinden auf Dauer spaltete.
Während Zwingli den Gründungsimpuls für die Reformierte Theologie darstellte, spielten bald andere eine prominente Rolle. Heinrich Bullinger setzte die Züricher Reformation nach dem Tode Zwinglis fort. Martin Bucer setzte ähnliche Reformen in Straßburg ein. Johannes Calvin, Guillaume Farel und Pierre Viret, um einige zu nehmen, initiierten die Reformation in Genf und seiner Umgebung. Zum Ende des 16. Jahrhunderts verbreiteten sich reformierte Gemeinden in ganz Europa, vor allem in Frankreich, den Niederlanden, in England und Schottland. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts entstanden so Denominationen, die sich zur reformierten Theologie bekannten.
Während dieser Periode etablierte sich reformierte Theologie auch im universitären System, was zu einer Forcierung reformierten Denkens im späten 16. und im ganzen 17. Jahrhundert führte. Das wird wahrscheinlich von John Owen in England und Gisbertus Voetius in den Niederlanden am besten bezeugt. Diese fruchtbare Phase sollte jedoch nicht lange andauern und der Einfluss der Aufklärung auf die Lehrkonzepte der Universitäten zum Ende des 17. Jahrhunderts bedeutete, dass reformierte Theologie, so wie sie in der traditionellen Metaphysik verwurzelt war, bald entweder bis zur Unkenntlichkeit modifiziert oder aus den Vorlesungen entfernt wurde.
Später spielte die Reformierte Theologe eine entscheidende Rolle in der Politik und im sozialen Leben der Niederlande, vor allem durch die Person von Abraham Kuyper, der zum Gründer einer Denomination, einer Zeitung, einer Universität und einer politischen Partei wurde. Er wurde zudem niederländischer Premierminister. Bei Abraham Kuyper nahm die reformierte Theologie eine kulturelle Ambition an, die man seit der Reformation des 16. Jahrhunderts nicht mehr gesehen hat und fand in Herman Bavinck, einem Freund und Kollegen Kuypers, einen ihrer talentiertesten und wortgewandtesten Theologen. Sein vierbändiges Werk Reformed Dogmatics stellt den letzten großen Versuch dar, eine umfassende Darstellung der reformierten Theologie im Dialog mit der Moderne zu schaffen. Eine unglückliche Dimension der holländischen reformierten Theologie war die Rolle, die sie in Südafrika spielte, wo sie dafür verwendet wurde die Apartheid zu rechtfertigen, obwohl es in seiner eher liberalen Form auch eine Quelle für diejenigen wurde, die sie ablehnten, wie z.B. für Alan Boesak.
In Schottland stellt die Free Church of Scotland und ihre Bildungseinrichtung das New College einige ihrer führenden Theologen auf, z.B. die herausragenden Theologen William Cunningham und James Bannerman. In Amerika stellte das Princeton Theological Seminary das Zentrum der reformierten Theologie im 19. Jahrhundert dar und trug durch ihre beiden bekanntesten Dozenten, Charles Hodge und B. B. Warfield ebenfalls zum reformierten Denken bei, in besonderer Weise in Fragen der Evolution und der Autorität der Schrift. Schließlich wurde durch den Einsatz der amerikanischen Mission Korea und später nach der Teilung des Landes dann Südkorea zu einem Zentrum reformierter Theologie in der nicht-westlichen Welt.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts war Karl Barth der wichtigste reformierte Theologe, obwohl seine eigene Theologie, vor allem in Fragen der Erwählung und der Schrift eine bedeutende Abweichung von der reformierten konfessionellen Tradition in diesen Punkten darstellte. Die eher orthodoxen und konfessionellen Strömungen der reformierten Theologie nach der Ära Bavinck wurden außerhalb der etablierten Konfessionen und Akademien von Theologen vertreten, die die früheren Traditionen im Wesentlichen verdrängten. Das spätere Werk des anglikanischen Theologen John Webster, der an den Universitäten von Oxford, Aberdeen und zuletzt St. Andrews lehrte, stellte eine gewisse Ausnahme von diesem Muster dar.
Besonderheiten reformierter Theologie
Reformierte Theologie teilt mit dem Lutheranismus und dem Anglikanismus eine Hingabe zu den grundlegenden Lehren der protestantischen Reformation: Die Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben, die Genugsamkeit und normative Autorität der Schrift allein und eine grundsätzliche Ablehnung des sakramentalen Systems und der Lehrautorität der Kirche.
Heilslehre
Wie auch schon Luther, folgten die Reformierten Augustinus und der mittelalterlichen, antipelagianischen Tradition in der Betonung der Souveränität Gottes in der Errettung durch Vorherbestimmung und Erwählung seit Ewigkeit her. Das folgte als logische Schlussfolgerung aus dem Festhalten an der Bedeutung der Erbsünde und der menschlichen Verderbtheit, die es dem Menschen unmöglich machen, sein eigenes Heil zu erlangen. Reformierte Theologen besitzen trotzdem eine gewisse Bandbreite an Ansichten, z.B. ob der Ratschluss zur Vorherbestimmung „einfach“ (= Erwählung zum Leben und Vorbeigehen an den anderen) oder „doppelt“ (mit einem positiven Willen sowohl einige zu wählen, wie andere zu verwerfen) war oder auch in der Frage des Supra- oder Infralapsarianismus (= der Frage, ob Gott in seiner ewigen Erwählung diese als bereits gefallen oder als nicht gefallen ansah).
Auch im Bezug auf die Sühne existiert eine Meinungsvielfalt in der Frage ihrer sogenannten Reichweite. Während alle orthodoxen Varianten der reformierten Theologie ein Konzept universellen Heils ablehnen, wird über die hypothetische Genugsamkeit und das Ziel der Sühne in der reformierten Tradition schon seit der Zeit der Reformation diskutiert; am bekanntesten dürfte dabei der Amyraldianismus sein, entstanden in Saumur, einer französischen Akademie. Die Mitglieder dieser Fakultäten vertraten eine hypothetisch universelle Sühne, während sie gleichzeitig ein universelles Heil ablehnten.
Sakramente und Christologie
Die Sakramente befinden sich im Kern dessen, was die Reformierten von den Lutheraner unterscheidet. Die Reformierten verstehen die Taufe im Sinne eines Bundeszeichens, als Ablösung der Beschneidung und als Hinweis auf Gottes einseitigen Verpflichtungen gegenüber seinem Volk im Bund der Gnade (covenant of grace). Somit halten die Reformierten wie die Lutheraner an der Kindertaufe fest, sehen diese aber im Gegensatz zu diesen nicht als einen Moment der Wiedergeburt, sondern vielmehr als das Zeichen des Eintritts in die sichtbare Gemeinde. Reformierte Baptisten lehnen die Kindertaufe ab, behalten aber ein Bundesverständnis bei, mit dem sie Gott als den Handelnden sehen und die Taufe nicht einfach auf ein äußeres Mittel des Glaubensbekenntnisses reduzieren.
Auch zum Abendmahl gibt es in der Reformierten Tradition eine Diversität, die sowohl die Position von Zwinglis Gedächtnismahl wie auch Calvins Position einschließt. Das Gegenstück zu beidem ist vor allem die Position Luthers und des Lutheranismus. Luther verteidigte beharrlich die tatsächliche Gegenwart des vollständigen Christus, des göttlichen und menschlichen in den Elementen Brot und Wein. In der späteren lutherischen Theologie wurde dies so ausgedrückt, dass der ganze Christus in, mit und unter den Elementen gegenwärtig ist. Zentral für diese Idee ist, dass in der Menschwerdung Jesu die Attribute der Gottheit direkt seiner Menschheit mitgeteilt wurden (und daher könne z. B. die Menschheit Jesu an der Allgegenwart seiner Göttlichkeit und an der Gegenwart in den Elementen teilhaben). Die Lutheraner bestanden zudem darauf, dass dies bedeute, dass die Ungläubigen, die das Sakrament empfangen, tatsächlich Christus, wenn auch zu ihrer Verdammnis, empfangen.
Die reformierte Position lehnt die Idee der direkten Kommunikation ab und behauptet stattdessen, dass die Eigenschaften der Gottheit Christi der Person des Mittlers und damit der menschlichen Natur nur indirekt vermittelt werden. Diese Position wurde als das extra Calvinisticum bekannt: Die Menschheit Christi ist zwar wirklich mit seiner Gottheit verbunden, ohne diese aber vollständig zu umfassen. So bleibt die Menschheit Christi endlich und kann nicht in Brot und Wein gegenwärtig sein, weil sie gegenwärtig zur Rechten des Vaters im Himmel sitzt.
Während Zwinglianer und Calvinisten in diesem christologischen Punkt und auch in ihrer Ablehnung der lutherischen Behauptung, dass Ungläubige wirklich den Leib und das Blut Christi beim Abendmahl essen, übereinstimmen, bestehen dennoch wesentliche Unterschiede. Zwinglianer neigen dazu, das Abendmahl als ein bloßes Gedächtnismahl zu betrachten, dessen Bedeutung darin liegt, Christen an Christi Tod zu erinnern und sie in dieser Gegenwart zusammenzuhalten. Calvin und seine Nachfolger betrachten das Abendmahl nicht nur als Gedächtnismahl, sondern auch als Zeichen und Siegel des Gnadenbundes. Durch den Akt des Essens befähigt der Heilige Geist den Gläubigen, sich im Glauben wirklich von Christus zu nähren und macht dadurch Christus für den Teilnehmenden real. Es ist derselbe Christus, aber auf andere Weise empfangen. Wie die Lutheraner betrachteten jedoch alle Reformierten die Verkündigung des Wortes als den einzigen Kontext, in dem die Sakramente ordnungsgemäß gespendet und empfangen werden konnten. Nur wenn die sakramentale Handlung im Verhältnis zu Gottes Verheißung in Christus verstanden wurde, konnte vermieden werden, dass sie zu einem Götzen wurde.
Politik und Kultur
Die Reformierte Theologie der letzten hundert Jahre hat unterschiedliche Modelle zum Verständnis der Beziehung der Gemeinde zu breiter angelegten sozialen Anliegen hervorgebracht. Auf der linken Seite inspirierte das Werk von Jürgen Moltmann die Befreiungstheologie. Auf der rechten Seite finden wir eine Bewegung, die mit Rousas J. Rushdoony und seinen Nachfolgern verknüpft ist: Die Theonomie oder der christliche Rekonstruktionismus setzte sich für den Einsatz des alttestamentlichen Gesetzes in der gegenwärtigen Gesellschaft ein. In der letzten Zeit war es das Werk von David VanDrunen, welches die Tradition des Naturrechts, das eine wichtige Rolle im 16. und 17. Jahrhundert gespielt hat, in der reformierten Theologie rehabilitiert hat.
Zusammen mit einer Betonung der Zwei-Reiche-Lehre stellt dies eine fruchtbare neue Entwicklung in der reformierten Ethik zu einem Zeitpunkt dar, in dem der Protestantismus sein soziales Denken im Hinblick auf neue politische und ethische Herausforderungen in einem post-christlichen Kontext neu bewerten muss.
Gottesdienst
Zwar wird keine verpflichtende liturgische Form von der reformierten Theologie gefordert, doch üblicherweise betrachten die reformierten Kirchen die Heilige Schrift als bindend auch für den Gottesdienst. Das führt üblicherweise zu einer Gottesdienstgestaltung, die auf ästhetische und formale Einfachheit drängt und sich auf Gebet, Schriftlesung, Predigt und Gesang konzentriert. Geschichtlich war letzterer meist eine Psalmodie, gegenwärtig umfasst dieser aber auch Hymnen. Ein solcher Gottesdienst wird als eine tatsächliche Manifestation der reformierten Verpflichtung für die Genugsamkeit der Schrift gesehen, nicht einfach nur für Lehre und Ethik, sondern auch für die kirchliche Praxis.
Literaturhinweise
Robert Kolb and Carl R. Trueman, Between Wittenberg and Geneva (Baker)
Abraham Kuyper, Lectures on Calvinism (Eerdmans)
Richard A. Muller, Post-Reformation Reformed Dogmatics (Baker)
The Westminster Standards.
The Three Forms of Unity.