Bewertung der Reaktion der Kirche auf einen veränderten kulturellen Druck
Im ersten Teil unserer Frage-Antwort-Runde mit Tim Keller haben wir Kellers Kindheit und die ersten Jahre seines Dienstes beleuchtet. Teil 2 konzentriert sich auf Kellers Gedanken über Kultur, Gerechtigkeit, aktuelle Ereignisse, seine Theologie, sein Vermächtnis und vieles mehr.
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Viele Christen kämpfen damit, ihre Beziehung zur Kultur der Welt zu ordnen. Sehen Sie es so, dass die Kultur der Welt gegenüber christlichen Werten zunehmend feindselig eingestellt ist (oder war sie das womöglich schon immer)?
Ja, absolut. Die Kultur ist dem Christentum gegenüber feindseliger geworden. Sei es die akademische Welt, die Medien, die Regierung, die Wirtschaft, die Unterhaltungsbranche, die Kunst, oder die sozialen Medien – unsere Kultur wird christlichen Glaubensüberzeugungen und Werten gegenüber zunehmend feindselig. Es ist nicht dasselbe, wie es schon immer gewesen ist. „Wie soll man darauf reagieren?“ Darüber kann man wochenlang debattieren oder in aller Kürze antworten. Ich versuche das Zweite. Erstens: Tut Buße dafür, wie das widersprüchliche Leben von Christen die Glaubwürdigkeit der Kirche beschädigt hat. Zweitens: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Drittens: Lasst die Menschen wissen, dass ihr Gläubige seid – versteckt es nicht. Viertens: Sorgt dafür, dass ihr in eurem Reden nicht schroff oder unbeholfen seid (stellt sicher, dass jemand wegen des Evangeliums beleidigt ist und nicht wegen euch). Und Zuletzt: Habt keine Angst vor Verfolgung. Jesus verspricht, bei euch zu sein.
Wie haben Sie Ihre Überzeugung und Ihr Interesse an der Gerechtigkeit entwickelt?
Erstens: Als ich anfing, intensiv die Bibel zu lesen und versuchte, sie immer wieder durchzulesen, begann ich zu sehen, wie oft die Schrift über Gerechtigkeit für die Witwe und die Waisen, für Einwanderer und Arme spricht. Das ist bemerkenswert.
Zweitens: Als ich über das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter predigte, musste ich die Geschichte intensiv studieren und habe schließlich die Implikationen gesehen. Als Jesus die Frage gestellt wurde „Was heißt es, meinen Nächsten zu lieben?“, erzählte er eine Geschichte von einem Mann, der sein Leben aufs Spiel setzt, um anzuhalten und einem Mann, der einer anderen Rasse angehört und eine andere Religion hat als er selbst, aufopferungsvoll körperlich und materiell zu helfen!
Und als Letztes: Als ich nach New York City umzog, wurden die Nöte der Armen für mich noch deutlicher sichtbar.
Geben Sie ein Beispiel davon, wie Sie einen unpopulären Standpunkt einnehmen mussten, ob gegenüber Nichtchristen oder Mitgläubigen.
Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, wie radikal das ganze Unternehmen Redeemer Church war. Jeden Sonntag predigte ich, bei jedem Treffen lehrte ich, ich vertrat unpopuläre Standpunkte, die Großstadtbewohnern gegen den Strich gingen. Mir begegnete wöchentlich – manchmal täglich – Widerstand und Feindseligkeit.
Die Redeemer Presbyterian Church ist eine konservative, evangelikale Kirche im säkularen, liberalen Manhattan. Jede Woche sagte ich den Menschen Dinge, welche die meisten als absolut empörend, wenn nicht sogar gefährlich ansahen – Jesus ist der einzige Weg zur Erlösung; wenn man nicht an ihn glaubt, dann ist man verloren und geht in die Hölle; jedes Wort der Bibel ist wahr und man muss sich ihr unterwerfen, ob sie nun zur eigenen Meinung passt oder nicht; Sex ist nur für einen Mann und eine Frau in einer Ehe bestimmt; man soll mit seinem Geld radikal großzügig sein, und wenn man wohlhabend ist, sollte man einen bescheidenen Lebensstil pflegen. Und so weiter!
Eine Gemeinde zu gründen und in öffentlichen Predigten die Schrift auszulegen, das war und ist außerordentlich konfrontativ. Nach dem Gottesdienst kamen sehr oft Menschen auf mich zu und brachten einen starken Widerstand zum Ausdruck. Die meisten taten das höflich, aber manche waren sehr wütend und beschimpften mich sogar. Manche waren in Tränen aufgelöst.
Die Kirche hat in unserer Zeit versagt, den Missionsbefehl auszuführen, und zwar indem sie keinen Weg gefunden hat, eine nach-christliche, säkulare Kultur mit dem Evangelium zu erreichen.
Worin sehen Sie die größte Bedrohung für heutige Christen?
Ich denke, in den Vereinigten Staaten ist die zweitgrößte Bedrohung eine neue progressive, säkulare Ideologie, die zunehmend die akademische Welt, die Regierung, die Welt der Unternehmen und die Mainstream-Medien beherrscht. Sie ist gegen Redefreiheit und zutiefst gegen religiöse Menschen, die viele Aspekte ihres Glaubens in der Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen oder praktizieren.
Die erste und größte Bedrohung ist jedoch das Versagen der amerikanischen Kirche an sich:
• Die Mainstream-Kirche hat sich eng mit liberalen politischen Parteien verbunden, und die evangelikale Kirche hat dasselbe mit konservativen politischen Parteien getan. Deshalb sieht man jetzt nichts anderes in uns als einen politischen Machtblock.
• Es gab auch zahlreiche ungeheuerliche Beispiele an Heuchelei bei vielen berühmten Kirchenleitern, die verschiedener Arten des Missbrauchs und des lasterhaften Verhaltens schuldig waren.
• Anstatt zu bekennen, wie die amerikanische Kirche in der Vergangenheit Teil dessen war, dass verschiedene Völker an den Rand gedrängt und ausgebeutet wurden, hat sich ein lautstarker Teil der modernen evangelikalen Kirche geweigert, Buße zu tun und zuzuhören. Stattdessen ist ihr Kommunikationsstil von Härte und Schuldzuweisungen geprägt.
• Die Kirche hat in unserer Zeit versagt, den Missionsbefehl auszuführen, und zwar indem sie keinen Weg gefunden hat, eine nach-christliche, säkulare Kultur mit dem Evangelium zu erreichen. (Siehe Lesslie Newbigins wegweisenden Artikel „Can the West Be Converted?“ [Dt.: Kann der Westen bekehrt werden?“])
Nehmen wir an, Sie würden heute die Redeemer Church gründen. Inwiefern wäre das anders, wenn man bedenkt, wo die Nation aktuell steht und wo Sie aktuell stehen (angenommen, Sie hätten niemals die Krebsdiagnose bekommen)?
Die Lehre wäre dieselbe (da meine Lehre sich nicht verändert hat).
Die grundlegende „theologische Vision“ (ein Begriff, der in meinem Buch Center Church erklärt wird [auf Deutsch erschienen unter dem Titel Center Church: Kirche in der Stadt; pulsmedien, Worms, 2015]) wäre auch dieselbe, weil sich trotz der Veränderung der Kultur der Vereinigten Staaten und der Kultur von New York City die Richtung dieser Veränderung nicht wirklich geändert hat. Heutzutage geht es in dieselbe Richtung wie damals im Jahr 1989. Diese Faktoren der „theologischen Vision“ würden also dieselben bleiben.
Damit meine ich folgendes:
1) Das, was das Herz liebt, mit dem Evangelium neu ordnen.
2) Die Stadt in Wort und Tat lieben.
3) Kontextualisierung und kulturelles Engagement ohne Kompromisse.
4) Gleichzeitig zu Christen und Nichtchristen predigen, weil wir die ganze Zeit Ungläubige einluden und ihre Anwesenheit bei uns erwarteten.
5) Die Verwendung einer zugänglichen Sprache, kein frommes „Insider“-Gerede oder unnötiges technisch-lehrmäßiges Gerede.
6) Über Nichtchristen ganz genauso reden, wenn sie nicht da sind, wie wenn wir mit Nichtchristen reden, wenn sie da sind.
7) „Die Hauptsache zur Hauptsache machen“, anstatt ständig über Themen zu streiten, bei denen Christen unterschiedliche Ansichten haben.
8) Betonung der Überwindung von Rassenschranken und die Bildung einer liebevollen, multi-ethnischen Gemeinschaft.
9) Nächstenliebe durch barmherzige und gerechte Taten.
10) Mit Ungläubigen argumentieren wie Paulus in Apostelgeschichte 17 und 1. Korinther 1,22-23, mit einer Strategie der „subversiven Erfüllung“. D.h. Ungläubigen zu zeigen, dass ihre besten Bestrebungen götzendienerisch sind, aber ihre wahren Bedürfnisse in Christus erfüllt werden können.
11) Dinge kombinieren, welche die Erwartungen von Nichtchristen über den Haufen werfen – zum Beispiel:
a. Unpopuläre Wahrheiten aussprechen, jedoch mit geduldiger, freundlicher, für Kritik offene, ungezwungener Liebe.
b. Energische, aktive Evangelisation und trotzdem Aufrufe zur Gerechtigkeit.
c. Starkes Eintreten für die historische christliche Lehre und eine Offenheit für die Künste und deren Betonung.
d. Glaube an die Autorität und Irrtumslosigkeit der Schrift, aber doch eine tiefe Wertschätzung nichtchristlicher Denkweise und eine Bereitschaft, davon zu lernen (das Praktizieren der „allgemeinen Gnade“).
12) Eine Betonung sowohl der tiefen Einbeziehung in der Kirche und der christlichen Gemeinschaft unter Einbeziehung des Glaubens, als auch der Arbeit in den öffentlichen Bereichen der Gesellschaft.
13) Eine Denkweise der Gesamtbewegung zu haben, im Sinne des Befürwortens der Zusammenarbeit mit anderen Christen, anstatt sektiererisch und separatistisch aufzutreten.
14) Einen dienenden Führungsstil und Offenheit für Ideen und Kritik zu leben, anstatt mit Zwang, Missbrauch und von oben nach unten zu führen.
Was sich seit 1989 verändert hat, sind mindestens folgende Dinge. Damals war die säkulare Kultur vom Psychologischen Denken beherrscht. Jeder war Teil von Selbsthilfegruppen und sprach über Co-Abhängigkeit, Selbstwert und andere therapeutische Themen. Heute wird die säkulare Kultur vom Soziologischen Denken beherrscht. Die Betonung des therapeutischen Individualismus ist immer noch vorhanden, ist jedoch gewissermaßen durch Gruppenidentität und Themen wie Macht und Gerechtigkeit verdrängt worden.
Der ältere Liberalismus – mit seiner Betonung der Rechte des Einzelnen, der Redefreiheit, und der Befürwortung unterschiedlicher Sichtweisen – wird von einem sehr viel anti-religiöseren Säkularismus verdrängt, der diesen Vorstellungen gegenüber zutiefst misstrauisch ist. Christen können nun sehr viel offeneren Widerstand gegen ihre Glaubensüberzeugungen erwarten. Es gibt auch andere Dinge, die in NYC passieren – die Demographie hinsichtlich Rasse und Schicht verändert sich andauernd und muss einbezogen werden.
Im Lichte dieser Verschiebungen wäre das, was sich verändern würde, die Dienst-„Modelle“. Das bezieht sich darauf, wie (und nicht was!!) man predigt (welche Fragen man anspricht, welche Themen und Inhalte man betont, welche Veranschaulichungen man verwendet, welche Autoren und Autoritäten man zitiert), wie man Evangelisation betreibt (mittels Veranstaltungen und Rednern, oder eher durch persönliche Freundschaften und Abläufe?), wie man neue Mitglieder einbezieht und Jüngerschaft lebt, wie man Menschen für die pastorale Fürsorge organisiert (durch Hauskreise? Durch pastorale Netzwerke für Laien?), wie man Kindern die Glaubensinhalte weitergibt, wie man Leiterschaft ausübt, und so weiter.
Einige Beispiele für Veränderungen des „Modells“: Das Predigen in NYC wird „subversiv“ kulturelle Sorgen und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit „erfüllen“ müssen, wie es vor 30 Jahren die Sehnsucht nach Selbstverwirklichung ansprach (und muss es weiterhin tun). Evangelisation in NYC erfordert mehr Betonung auf persönlichen Gesprächen zwischen Christen und Nichtchristen. Die meisten Nichtchristen werden einen solchen Prozess durchmachen müssen, bevor man sie in einen christlichen Gottesdienst mitbringt.
Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht an alles, was Sie gesagt oder geschrieben haben. Aber gibt es vielleicht etwas, was Sie jetzt anders machen würden?
Die Zeiten ändern sich natürlich. Und wenn ich daher auf Dinge zurückblicke, die ich vor 20, 30 oder 40 Jahren geschrieben oder gesagt habe, dann bin ich sicher, dass ich vielleicht anders dafür argumentieren, oder sie irgendwie anders ausdrücken würde – mit Sicherheit könnte ich sie ganz anders illustrieren.
Wenn es jedoch um Standpunkte in biblischen und theologischen Fragen geht, dann vertrete ich bei den allermeisten davon immer noch denselben Standpunkt wie damals, als ich meine theologische Ausbildung abgeschlossen habe.
Wie ist es beim Thema „Schöpfung und Evolution“?
Ich glaube an eine „alte Erde“ und daran, dass 1. Mose 1 ein poetischer Ausdruck der Bedeutung der Schöpfung und kein Rezept ist; ich glaube aber auch an die besondere Schöpfung von Adam und Eva als unseren Vorfahren.
Wie ist es beim Thema „soziale Gerechtigkeit“?
Ich glaube, dass Gott will, dass Christen sich gegen Rassismus und Armut einsetzen und eine gerechtere Gesellschaft erschaffen. Das sollen sie jedoch verteilt auf der ganzen Welt tun. Die Kirche als Kirche in Ihrer Fähigkeit als Kirche soll evangelisieren und dann jüngerschaftliche Beziehungen unter Christen leben, um die Welt zu verändern. Sie sollte sich jedoch nicht als Institution mit bestimmten politischen Organisationen oder Parteien verbünden.
Wie ist es beim Thema „das Werk des Heiligen Geistes“?
Ich bin weder charismatisch, noch anti-charismatisch, noch wertschätze ich nicht die Stärken der Bewegung.
Wie ist es beim Thema „Sexualität“?
Ich glaube, dass Sex etwas ist, das nur innerhalb der Ehe zwischen Mann und Frau stattfinden soll. Zum Thema Abtreibung: Ich glaube, dass Abtreibung das Nehmen eines menschlichen Lebens und daher eine Sünde und ein großes Übel ist.
Wie ist es beim Thema „Komplementarismus“?
Ich glaube, dass in der Ehe, zuhause und in der Kirche Männer „Leiterschaft“ ausüben sollen, und dass diese Leiterschaft Christi Definition von Autorität nachempfunden ist. Es ist die Autorität zu dienen und zu sterben. Ein dienender Führungsstil darf niemals als Machtinstrument verwendet werden, um andere zu überzeugen. Er darf auch nicht aus Eigennutz Autorität ausüben. Ich glaube, dass Frauen nicht als Pastorinnen und Ältestinnen ordiniert werden sollen, dass sie aber Diakoninnen sein können. Ich setze den Begriff „Komplementarismus“ nur deshalb in Anführungsstriche, weil Kathy und ich zu unserem Standpunkt kamen, als das Wort noch gar nicht geprägt war. Oft werfen Leute, die dieses Etikett verwenden, eine Menge an außerbiblischen Regeln für Frauen in diesen Topf (wie z.B. nicht außerhalb von zuhause arbeiten, oder nur bestimmte Jobs annehmen, etc.), welche wir niemals unterschreiben würden. Seit der Bibelschule hat sich unsere Sichtweise auf dieses Thema nicht verändert.
Wenn überhaupt, dann wertschätze ich die Weisheit und die Wahrheit der reformierten Glaubensbekenntnisse sogar noch tiefgründiger, insbesondere die Westminster Standards meiner eigenen Denomination. Bei einer Vielzahl an Fragen hinsichtlich des Bekenntnisses – wie das Verständnis dessen, welche Rolle das „regulative Prinzip des Gottesdienstes“ spielt, und wie wir den Sabbat halten – habe ich meinen Standpunkt nicht verändert, seit ich meiner Denomination beigetreten bin.
Wie oben bereits gesagt überdenke ich immer meine Predigtnotizen, sodass ich klarer sagen kann, was ich meine. Aber das bedeutet, dass ich ändere, wie ich predige, aber nicht was ich predige. Manche Leute werden sagen, dass ein solches Fehlen von Veränderung über vier Jahrzehnte des Dienstes schlecht ist und ein fehlendes „Wachstum“ zeigt, und andere denken vielleicht, dass es gut ist (so wie ich). Ich lasse das andere beurteilen.
Ich habe viele Mitchristen gehört, die Ihnen vorgeworfen haben, liberal zu sein – sowohl theologisch als auch politisch.
Ich sollte mit einer Erinnerung anfangen: Diese Begriffe politisch „liberal“ und „konservativ“ sind ziemlich ungenau und subjektiv. Vor einigen Jahren hatte ich mit einem Pastor meiner Denomination zu tun, der zutiefst daran glaubte, dass es weder Frauen noch alleinstehenden Männern erlaubt werden sollte, bei Wahlen ihre Stimme abzugeben, sondern nur den männlichen Familienoberhäuptern. Er glaubte, dies sei der biblische Standpunkt. Es war einer der Gründe, warum er irgendwann aus der Denomination austrat und sagte, dass 99 Prozent ihrer Pastoren furchtbar „liberal“ seien.
Ein anderer christlicher Leiter, mit dem ich sprach, sagte mir, Steuergelder dürften nicht anders eingesetzt werden als zur Unterstützung der Polizei und des Militärs. Alles andere sollte privat und nicht durch die Regierung geregelt werden. Er begründete das mit der seiner Meinung nach richtigen Auslegung von Römer 13. Er glaubte, dass alles, was über diesen extrem niedrigen Steuersatz hinausgeht, eine Form von Sozialismus sei. Als ich sagte, dass ich denke, Steuergelder könnten auch für den Bau von Brücken und Straßen eingesetzt werden, nannte er mich einen Liberalen. Nochmal: Im Vergleich zu ihm war ich auf dem Spektrum weniger konservativ.
Was ist mit dem Begriff politisch liberal?
So wie der Begriff von der großen Mehrheit der Menschen in den letzten Jahrzehnten verwendet wurde, bin ich nicht politisch liberal. Ich bin nicht für eine hochzentralisierte von der Regierung gesteuerte Wirtschaft, oder für Steuersätze auf dem Niveau von europäischen, sozialistischen Ländern. Ich stehe für pro-life. Ich bin natürlich ein großer Unterstützer von Religionsfreiheit, ein Begriff, den die Linke nun für Panikmache gebraucht und ein Konzept, das sie nicht befürwortet. Politisch Liberale betrachten mich nicht als politisch liberal.
Warum haben mich also manche Leute als politisch liberal bezeichnet?
Erstens: In einem politisch hochgradig polarisierten Klima wird jetzt jeder, der einen nicht komplett, lauthals und explizit unterstützt, als Unterstützer der anderen Seite gesehen. Während der letzten Wahl habe ich einfach gesagt, dass ich als Pastor nicht das Gewissen von Christen binden (siehe Kapitel 20 im Westminster Bekenntnis) und ihnen nicht sagen kann, wie sie wählen sollen. Das hat viele konservative Menschen verärgert, die glaubten, dass jeder Versuch „unpolitisch“ zu sein, in Wirklichkeit bedeuten würde, auf der Seite der Liberalen zu stehen.
Zweitens: Weil ich oft darüber predige, was die Bibel darüber lehrt, wie intensiv sich Christen für Arme und Bedürftige einsetzen und sie unterstützen sollen. Sogar obwohl ich einfach nur die Schrift auslege und nichts über Regierung oder Besteuerung sage, glauben viele Menschen, dass eine solche Betonung immer zu höheren Steuern und einer mächtigeren Regierung führen würde, und ich daher „liberal“ sei. Das ist natürlich nicht wahr. Wenn man sagt, Christen sollten sich zutiefst um die Bedürfnisse der Armen kümmern, dann ist das einfach nur das Darlegen einer biblischen Wahrheit und sagt nichts über eine politische Agenda aus.
Drittens: Viele glauben, dass ich, wenn ich Liberalen keine Schuldzuweisungen mache, oder ihnen gegenüber nicht unfreundlich bin, selbst ein Liberaler sei, was nicht wahr ist. Jesus rief uns auf, öffentlich nicht nur unsere Mitgläubigen, sondern alle zu „grüßen“ und ihnen Frieden zu wünschen (Mt 5,43-48). Vor kurzem habe ich einen Atheisten (Greg Epstein) beglückwünscht, der zum leitenden Kaplan in Harvard berufen worden war. Er ist ein Mann, dessen Sichtweisen ich öffentlich diskutiert habe, und in den Akten steht, dass ich seinen atheistischen Überzeugungen widersprochen habe. Trotzdem war er auch zu mir freundlich und ist ein Mann, den Insider als fair kennen. Er ist offen und erlaubt allen Kaplanen – sogar evangelikalen – ihren Dienst zu tun, anders als es andere leitende Kaplane in Harvard in der Vergangenheit getan haben. Trotzdem drückten viele in den sozialen Medien ihre Überzeugung aus, dass man, wenn man Atheisten und Liberalen Freundlichkeit erweist, zumindest selbst ein heimlicher Liberaler sein muss. Das ist nicht wahr.
Was ist mit dem Vorwurf, dass Sie theologisch liberal sind?
Ich muss bekennen, dass mich das ziemlich erstaunt. Ich bin Mitglied der presbyterianischen Kirche Amerikas, die von der Lehre her ziemlich konservativ ist, und ich bin zufrieden mit ihren theologischen Standpunkten, außer dass ich es befürworten würde, Frauen als Diakoninnen zu ordinieren. Ich glaube nicht, dass mich das in dem Sinne theologisch liberal macht, wie der Begriff von den meisten Leuten in den letzten Jahrzehnten gebraucht worden ist. Ich kann nur mutmaßen, dass manche Leute denken, meine Betonung von Gerechtigkeit und mein Anliegen für die Armen würde bedeuten, ich sei irgendwie unter der Oberfläche sowohl politisch als auch theologisch liberal, trotz meiner orthodoxen Glaubensüberzeugungen und meinem Bekenntnis.
Nochmal: Ich kann das nur mutmaßen. Es ist also möglich, dass ich nicht das ganze Bild sehe. Aber insgesamt betrachtet, ist es in Ordnung, wenn ich die Leute damit verwirre, ob ich in ihren Augen nun liberal oder konservativ bin. Wenn ein Christ im Gehorsam gegenüber der Schrift lebt, wird er oder sie nicht zu einer binären politischen Ideologie oder Partei passen. Mittlerweile bin ich froh über die Verwirrung.
Ich habe auch gehört, wie die Leute sagen, Sie würden die kritische Rassen-Theorie befürworten und seien zu sehr auf „soziale Gerechtigkeit“ ausgerichtet.
Ich habe bereits bei einigen der vorherigen Fragen über das Thema soziale Gerechtigkeit gesprochen. Ich lege nur das aus, was die Bibel über Gerechtigkeit sagt – und sie sagt eine Menge. Ich würde an dieser Stelle nur hinzufügen, dass manche befürchten, die Betonung von sozialer Gerechtigkeit würde zu einem nachlassenden Eifer bei der Evangelisation führen. Jeder, der die Redeemer Church oder meinen Dienst kennt, der weiß auch, dass das niemals der Fall gewesen ist. Ich persönlich bin von meiner Berufung her vorrangig Evangelist.
Hinsichtlich der Aussage, dass ich die kritische Rassen-Theorie befürworte: Erstens, ich habe eine Kritik an der kritischen Rassen-Theorie geschrieben, der viele Menschen, die dieser Theorie freundlich gesonnen sind, nicht zustimmen.
Zweitens: Viele Menschen wissen nicht, was die kritische Rassen-Theorie tatsächlich ist. Manche haben eine Arbeitsdefinition, dass sie darin besteht, „viel über Rassismus zu reden“. Die Bibel spricht an vielen Stellen an, dass „Ansehen der Person“ auf Grundlage von Schicht, Volkszugehörigkeit, Nationalität, Geschlecht, Alter oder irgendeinem anderen gesellschaftlichen Status Sünde ist. Ich habe daher von der Bibel her über Rassismus gesprochen, seit ich Mitte der 70er Jahre meinen Dienst begann. Die meisten Menschen führen die kritische Rassen-Theorie auf das Werk von Derrick Bell und andere Mitte bis Ende der 1990er Jahre zurück. Das bedeutet, dass meine Lehre über die Sünde des Rassismus zeitlich davor liegt.
Trotzdem glaube ich, was die Bibel lehrt (und was auch die amerikanische Schwarze Kirche uns jahrzehntelang gesagt hat) – dass es nämlich so etwas wie „systemischen“ oder „institutionellen Rassismus“ gibt. Das bedeutet, dass es gesellschaftliche Strukturen gibt, welche gewissen Gruppen oder Schichten von Menschen benachteiligen, selbst wenn alle, die innerhalb der Struktur arbeiten, persönlich und individuell in ihren Glaubensüberzeugungen und Einstellungen nicht rassistisch (oder sexistisch, etc.) sind.
Es gibt viele, die darauf bestehen, dass jeder, der an systemischen Rassismus glaubt, automatisch ein Vertreter der kritischen Rassen-Theorie ist. Das ist nicht wahr. Ich zeige in einem Artikel über dieses Thema, dass dieses Konzept in der Schrift gelehrt wird.
Viele Pastoren haben zu kämpfen, besonders nach den verschiedenen Verschiebungen während der Pandemie. Menschen treten wegen aufgrund der Pandemie erfolgten Beschränkungen, wegen der Wahl, wegen Rassenungleichheit, wegen politischen Unterschieden, etc. aus der Kirche aus. Viele Pastoren verlassen den Dienst. Haben Sie während Ihres Dienstes jemals mit etwas Derartigem zu tun gehabt, oder ist das etwas Einzigartiges während unserer heutigen Zeit? Wie sind Sie durch unruhige politische/ideologische Gewässer gekommen?
Ich würde sagen, dass die Kultur definitiv polarisierter ist als je zuvor, und dass ich in der Vergangenheit nie zuvor diese Art von Konflikten in Kirchen gesehen habe wie heute. In buchstäblich jeder Kirche gibt es eine kleinere oder größere Gruppe von Christen, die durch extrem wirksame und allumfassende Schleifen im Internet und in den sozialen Medien, in Newsfeeds und Communities nach links oder rechts radikalisiert wurden. Menschen werden 12 Stunden am Tag mit Dingen bombardiert, die für eine bestimmte politische Sichtweise stehen. Hauptsächlich soll nicht durch Argumente, sondern durch Empörung überzeugt werden. Menschen werden durch diese umfassende Art des öffentlichen Diskurses geprägt – weitaus stärker als sie durch die Kirche geprägt werden. Das sorgt für eine Krise. Nein, so etwas ist mir in der Vergangenheit nicht begegnet.
Wie man durch solche Gewässer kommt? Man folgt trotzdem dem Rezept aus dem Buch der Sprüche hinsichtlich seiner Worte. Sie müssen ehrlich, wenig, extrem sorgfältig gewählt, normalerweise ruhig sein, immer auf Erbauung ausgerichtet (auch wenn sie kritisch sind), und sie müssen von sehr viel stillem Zuhören begleitet sein.
Viele jüngere Pastoren, die Gemeinden gründen, respektieren und bewundern Sie. Viele haben die Vision, dass ihre Gemeinden das Wachstum und die Anerkennung der Redeemer Church erreichen. Das wird jedoch nicht bei allen passieren. Was würden Sie ihnen mitgeben?
Es ist gut, wenn man in seiner Gemeinde zahlenmäßig geistliches Wachstum sehen will. Jeder sollte sehen wollen, wie Menschen zum Glauben kommen und in Christus wachsen. Wenn das geschieht, dann geschieht Gemeindewachstum. (Anders ausgedrückt: Man kann eine Gemeinde zahlenmäßig wachsen lassen, ohne dass der Heilige Geist Leben verändert. Aber wenn der Heilige Geist Leben verändert, dann wird man gewöhnlich zumindest ein gewisses Gemeindewachstum sehen.)
Aber dramatisches Gemeindewachstum als Selbstzweck zu wollen, um (wie Sie sagen) „Anerkennung“ zu bekommen – das ist geistlich gesehen tödlich. Man soll einfach nur seiner Berufung treu sein wollen. Punkt. Falls man darüber hinaus Anerkennung bekommt, dann soll man Gott bitten, dass sie einem nicht schadet. John Flavel argumentiert in Keeping the Heart, dass die zweitgefährlichste geistliche Situation, in der man sein kann, „Rückschläge“ sind, aber die erste und größte geistlich gefährliche Situation, in der man sein kann, ist „Wohlstand“. Um Jeremia 45,5 zu zitieren: „Und du begehrst für dich große Dinge? Begehre es nicht!“
Wenn man nicht nach Erfolg strebt (sondern nach Treue und Fruchtbarkeit), dann ist es weniger wahrscheinlich, dass der Erfolg einem schaden kann, falls er doch kommt, weil er einen mit Stolz aufbläst und dazu bringt, Macht auf eigennützige und übergriffige Art zu verwenden. Im Rückblick spüren Kathy und ich, dass wir von Gott irgendwie vor den Versuchungen des Erfolgs beschützt wurden, (a) weil wir ihn überhaupt nicht erwartet haben – wir wollten niemals eine große Gemeinde sein oder haben das erwartet, (b) weil der Erfolg größtenteils kam, als ich schon älter war. Ich war fast 50, als die Gemeinde groß und bekannt wurde, (c) weil ich fast 60 war, als ich anfing, Bücher zu schreiben. Es ist sehr viel schwerer, als junger Erwachsener mit Erfolg umzugehen, als in höherem Alter. (d) Schließlich: Weil jeder Leiter eines Dienstes, ganz egal was man als „Erfolg“ betrachtet, einem erzählen kann, dass es immer noch Herzeleid, Verlust und Kämpfe gibt, die mit Leiterschaft einhergehen, sodass die Realität der Verantwortung einen weiterhin demütigt.
Ich habe gelesen, dass Kathy Keller in Ihrem Leben und Dienst eine unermesslich wichtige Rolle gespielt hat. Können Sie mir ein Beispiel dafür machen?
„Unermesslich“ ist das richtige Wort. Als wir am Gordon-Conwell Seminary nur Freunde waren, und wir uns noch nicht mal „gedatet“ haben, war Kathy die bei weitem förderlichste Person: Sie half mir dabei, die Wahrheit der Reformierten Theologie zu sehen. Sie war selbst Reformierte Christin, aber ihre Argumente dafür waren extrem zugänglich, vernünftig und praktisch. Ich sah, welche Rolle Themen der Reformierten Theologie in ihrem Leben und ihrer Perspektive spielten – und das gefiel mir. Ich bin mit Abneigung gegenüber dem Calvinismus zur Bibelschule gegangen, aber hatte ihn mir am Ende meines ersten Jahres vollständig zu Eigen gemacht.
Gibt es ein Beispiel aus der Redeemer Church?
Sie war zuerst inoffiziell und dann offiziell die Leiterin der Kommunikationsabteilung. Wenn man Mitarbeiter der Redeemer Church war, dann gewöhnte man sich an den Ausdruck: „Sprich so, als würde man dich belauschen.“ Das bedeutete: Christen sollten immer so über ihren Glauben reden oder Nichtgläubige so beschreiben, als würden sie von einem Ungläubigen belauscht. „Welche Schlussfolgerungen würde der Ungläubige über Jesus oder über Christen ziehen, wenn er hören würde, was du sagst?“ Das hatte großen Einfluss, und zwar nicht nur darauf, dass man Insidersprache und christlichen Jargon vermied, sondern es erinnerte auch jeden daran, zu erwarten, dass Ungläubige im Gottesdienst, bei Hauskreisen und bei allen anderen Gemeindeveranstaltungen dabei sind.
Wenn Sie zurückschauen: Was waren Ihre größten Herausforderungen als Pastor? Gab es Zeiten, als Sie darüber nachdachten, den Dienst aufzugeben?
Jedes Jahr im Mai war ich erschöpft und müde und spielte mit der Vorstellung, etwas anderes zu tun (ich denke, das ist etwas, das viele andere Pastoren ebenfalls tun). Aber ich habe niemals ernsthaft darüber nachgedacht. Zu einer Zeit, als meine Frau Kathy schwerkrank war, habe ich zumindest darüber nachgedacht, wieder als Lehrer an die Bibelschule zu gehen. Aber selbst dann glaube ich nicht, dass sie das zugelassen hätte.
Viele Menschen kennen Sie als den Mann Tim Keller. Noch mehr Menschen kennen Sie nicht persönlich, sondern als den Pastor und Theologen Tim Keller. Wie sollen sich all diese Menschen, die Sie nicht persönlich kennen, an Sie erinnern, wenn Sie schon lange weg sind?
Ich will, dass sich meine Kinder und Enkel an die Dinge erinnern, die ich versucht habe, ihnen in Wort und Beispiel beizubringen. Ich will, dass meine Bücher weiterhin gelesen werden, weil ich willentlich danach strebte, biblische Lehre vorzubringen, von der ich dachte, sie habe bleibenden Wert. Aber abgesehen davon glaube ich nicht, dass es meine Aufgabe ist, mich um mein „Vermächtnis“ zu kümmern.
Sophia Lee ist leitende Reporterin für die Zeitschrift WORLD. Sie hat das World Journalism Institute und die University of Southern California abgeschlossen. Sophia lebt zusammen mit ihrem Mann in Los Angeles, Kalifornien. @SophiaLeeHyun
Sophia Lee, Handling a Hostile Culture – Assessing how the Church is responding to shifting cultural pressures, v. 29.12.2021
https://wng.org/articles/handling-a-hostile-culture-1640586880
Übersetzt von Viktor Zander
This article originally appeared in the Jan. 15, 2022, issue of WORLD Magazine. Reprinted with permission. Copyright © 2022 WORLD News Group. All rights reserved. To read more Biblically objective journalism that informs, educates, and inspires, call (828) 435-2981 or visit wng.org.
Titelbild: Frank Licorice, CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0, via Wikimedia Commons
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