Was unterscheidet evangelikale Theologie von postevangelikaler und progressiver Theologie?

Dieser Artikel sowie der noch folgende zweite Teil enhält Auszüge aus zwei Vorträgen von Markus Till, die am 4.3.2023 im Rahmen des Studientags “Quo Vadis evangelikale Bewegung?” des Martin Bucer Seminars in München gehalten wurden.

Es ist gar nicht so einfach, die Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler bzw. progressiver Theologie zu beschreiben. Das Problem beginnt bereits mit der Schwierigkeit, den Begriff „evangelikal“ zu definieren. Schließlich sind die Evangelikalen eine in jeder Hinsicht außerordentlich bunte Bewegung. Trotzdem gibt es einige Gemeinsamkeiten. Der britische Historiker David Bebbington hat vier Merkmale definiert, die trotz aller Vielfalt in allen evangelikalen Bewegungen zu finden sind:

  • Die Betonung der Vertrauenswürdigkeit der Bibel
  • Die Zentralität des Versöhnungswerks Christi am Kreuz
  • Die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung
  • Der aktive Einsatz zur Ausbreitung des Evangeliums

Auch nach meiner Beobachtung beschreiben diese 4 Merkmale ziemlich gut, was Evangelikalen in aller Welt gemeinsam wichtig ist.

Was bedeutet “Postevangelikal”?

Auch Postevangelikale tragen das Wort „evangelikal“ noch in ihrer Selbstbezeichnung. Das liegt zumeist daran, dass sie einen mehr oder weniger langen Abschnitt ihres Lebens innerhalb der evangelikalen Bewegung verbracht haben. Viele Postevangelikale wollen das auch ganz bewusst nicht leugnen, sondern ganz bewusst sagen: Diese evangelikale Welt ist Teil meiner Geschichte und insofern immer noch Teil meiner heutigen Identität. Sie wollen also keine Ex-Evangelikale sein, die diesen Teil ihrer persönlichen Geschichte komplett ablehnen und hinter sich lassen wollen.

Trotzdem bringt die Vorsilbe „Post“ natürlich etwas wichtiges zum Ausdruck. „Post“ bedeutet: „nach“. Damit sagen Postevangelikale: Ich bin jetzt in einer Lebensphase, in der ich zumindest Teile oder Elemente dieser evangelikalen Frömmigkeit hinter mir gelassen habe. Deshalb orientieren sich Postevangelikale zumindest theologisch neu, oft aber auch ganz praktisch, indem sie ihre evangelikalen Gemeinschaften verlassen und sich neue Gemeinschaften und Netzwerke suchen.

Der Pastor und postevangelikale Autor Martin Benz verwendet für diese Veränderung das Bild eines Umzugs. Er schreibt in seinem Buch „Wenn der Glaube nicht mehr passt“:

Damit Glaube sich verändert, muss er sich weiterentwickeln. Manchmal fühlt sich der eigene Glaube wie eine Wohnung an, in der man sich nicht mehr zu Hause fühlt, und in die man niemanden mehr einladen möchte. Wie bei einem normalen Umzug muss sich auch der Glaube die Frage stellen: Welche Inhalte, welche Praxis und welche Überzeugungen möchte ich bewahren und mit in die Zukunft nehmen? Welche muss ich entsorgen, weil sie sich nicht bewährt haben oder in krankmachender Spannung zu meiner Lebensrealität stehen? Und welche sollte ich mir neu aneignen, damit der Glaube an Perspektive, Freiheit und Möglichkeiten gewinnt?“ (S. 46)

Benz nennt eine Reihe von Themen, die nach seiner Beobachtung immer wieder dafür sorgen, dass Christen anfangen, sich gegenüber ihrem bisherigen evangelikalen Glauben zu entfremden: Das können Probleme mit dem evangelikalen Gottesbild und Bibelverständnis sowie mit moralischen und sexualethischen Vorstellungen sein. Manche Christen wurden konfrontiert mit Heuchelei und Unehrlichkeit in christlichen Kreisen. Sie haben fehlende Barmherzigkeit und Lieblosigkeit erlebt. Oder sie tun sich schwer mit dem evangelikalen Verständnis von Kreuz, Erlösung und Verdammnis. Sie fremdeln mit gewalttätigen Bibelstellen und mit einer Aufteilung der Welt in drinnen und draußen, Christen und Gottlose.

Was ist “Progressive Theologie”?

Das Bild von einem Umzug erklärt auch gut, wofür der oft verwendete Begriff der „Progressiven Theologie“ stehen kann. Progressive Theologie bedeutet letztlich: Eine Theologie, die sich ständig weiterentwickelt und nicht bei bestimmten Dogmen stehen bleibt. Überzeugungen werden immer wieder überprüft. Dabei ist man bereit, auch grundlegende theologische Weichen umzustellen.

Man beruft sich dabei auf biblische Beispiele für progressive Veränderungen und sagt: Auch Jesus hat den Glauben weiterentwickelt, indem er zum Beispiel mosaische Reinheitsgebote aufgehoben habe. Petrus musste vom Heiligen Geist überzeugt werden, seine Berührungsängste mit Heiden aufzugeben. Und später habe das Apostelkonzil grundlegend neue Weichen gestellt, indem es gesagt hat: Die Heiden müssen sich nicht beschneiden lassen und sich nicht an die jüdischen Gepflogenheiten halten. Diese in der Bibel sichtbare Entwicklung in theologischen Fragen habe nach der Entstehung der Kirche nicht aufgehört. Sie geht bis heute weiter.

Evangelikale gehen hingegen von einer Abgeschlossenheit der Schrift aus. Sie sind überzeugt: Es kann nach der Festlegung des Umfangs der kanonischen Schriften keine grundlegend neuen Offenbarungen mehr geben. Die Bibel bleibt vielmehr dauerhaft der gültige Maßstab für alle Fragen des Glaubens und der Lehre. Deshalb ist es kein Wunder, dass es zunehmende Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler/progressiver Theologie gibt. Diese Differenzen sind im Grunde auch gar nicht neu. So schreibt z.B. der postevangelikale Blogger Christoph Schmieding unter der Überschrift “Was ist eigentlich postevangelikal?”:

„Letztlich bewegen postevangelikale Christen dieselben Fragen, die auch die aufkeimende liberale Theologie zu ihrer Zeit diskutiert hat. Es geht um die tradierte Vorstellung von Endgericht und ihrer Topik von Himmel und Hölle. … Es geht um die Frage der Ökumene, und ob man heute einen Exklusiv-Gedanken die eigene Religion betreffend noch formulieren kann oder überhaupt will. Es geht um Fragen der Lebensführung, wie etwa auch der Sexualmoral, und inwieweit Religion und biblische Vorstellungen hier heute noch als moralische Referenz angeführt werden können. Ja, nicht zuletzt steht auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Bibel und das zunehmende Bejahen einer historisch-kritischen Perspektive auf die religiösen Texte im Mittelpunkt des Diskurses.“

Mit anderen Worten: Postevangelikale und Progressive Theologie vollzieht eine Entwicklung nach, die in der von der Aufklärung geprägten Theologie schon seit rund 2 Jahrhunderten ihre Kreise zieht. Die zentralsten Differenzen, die sich aus dieser Entwicklung heraus zwischen evangelikaler und postevangelikal/progressiver Theologie ergeben, kann man durch drei große Trennungen beschreiben. Das heißt: Es gibt drei Dinge, die in der evangelikalen sowie in der historisch-orthodoxen Theologie und nicht zuletzt in der Bibel selbst untrennbar zusammengehören, die aber in der postevangelikalen und progressiven Theologie zunehmend voneinander getrennt werden:

1. Trennung zwischen Schrift und Offenbarung

Evangelikale Theologie betont: Schrift und Offenbarung ist untrennbar miteinander verbunden. Die Texte der Bibel sind zwar Menschenwort. Aber es ist zugleich doch auch immer voll und ganz Gott, der in diesen Texten spricht. Die Texte haben einen Offenbarungscharakter, das heißt: Sie sind vollständig von Gottes Geist durchdrungen, inspiriert und geprägt. Die Bibel ist insgesamt Heilige Schrift. Entsprechend gilt für Prof. Gerhard Maier: „Die Schriftautorität ist im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.“ [1]

In der postevangelikal/progressiven Theologie hingegen wird Schrift und Offenbarung zunehmend voneinander getrennt. Der Text wird zunehmend nicht mehr als Offenbarung angesehen. Stattdessen wird eher betont: Die eigentliche Offenbarung ist die Person Jesus Christus. Der biblische Text bezeugt diese Offenbarung zwar. Aber der Text selbst hat einen menschlichen Charakter. Deshalb ist er – so wie jeder menschliche Text – auch fehlerhaft und kritisierbar, wie der postevangelikale Theologe Siegfried Zimmer betont:

„Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“ [2]

Diese Kritik kann Siegfried Zimmer manchmal überaus deutlich formulieren. So äußert er z.B. in einem seiner Worthausvorträge[3]: „In religiösen Dingen, da gibt es Systeme, da gibt es Reinigungsgesetze von äußerster Kälte und Frauenfeindlichkeit. Die können auch in der heiligen Schrift stehen. 3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien?“

Es ist daher nur folgerichtig, dass in der postevangelikal/progressiven Theologie die Bibel auch als in sich widersprüchlich gilt. Denn sie ist ja eine Sammlung von fehlerhaften menschlichen Texten aus völlig verschiedenen Zeiten und Kulturen. Sie ist damit eher eine Sammlung von theologischen Meinungen und Erfahrungen mit Gott. [4] Da die Bibel in dieser Sichtweise keine innere Einheit hat, kann man auch nicht mehr davon sprechen, dass DIE Bibel irgendetwas sagt. Es gibt in der Bibel ja vielmehr eine Vielzahl von sich immer wieder gegenseitig widersprechenden Stimmen.

So ist erklärbar, dass in der postevangelikal/progressiven Theologie auch Positionen vertreten werden können, die dem durchgängigen und einstimmigen Zeugnis der Bibel widersprechen. So kann zum Beispiel praktizierte Homosexualität als mit dem Willen Gottes vereinbar angesehen werden, obwohl die Bibel sich durchgängig gegenteilig äußert.

Insgesamt ist ein gemeinsamer dogmatischer Konsens in der postevangelikal/progressiven Theologie kaum noch begründbar. Er wird im postevangelikal/progressiven Umfeld zumeist aber auch gar nicht für bedeutsam gehalten. Stattdessen wird die Mitte des christlichen Glaubens stark auf den personalen Jesus Christus reduziert, dessen Wesen, Werk und Lehre aber unscharf bleibt.

2. Trennung zwischen Glaube und Geschichte

Wir vergessen heute manchmal, dass die Bibel und das historische Christentum den christlichen Glauben immer sehr stark verankert haben in realen geschichtlichen Ereignissen. Sehr deutlich wird das zum Beispiel in einigen Sätzen aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis: „geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, … am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel…“

Hier werden also eine ganze Reihe von historischen Ereignisse aufgezählt, die für den christlichen Glauben als grundlegend angesehen werden. Auch die Bibel selbst ist in weiten Teilen ein Geschichtsbuch. Sie beschreibt die Geschichte Gottes mit den Menschen. Da wird also Glaube und Geschichte untrennbar zusammengehalten und eng miteinander verwoben. Grundlegend ist dabei die Botschaft: Du kannst Gott vertrauen, weil er in der Geschichte gehandelt hat! Entsprechend schreibt Johannes am Ende seines Evangeliums: Was in diesem Buch über die Zeichen steht, die Jesus vor den Augen seiner Jünger tat, „wurde aufgeschrieben, damit ihr festbleibt in dem Glauben: Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes!“ (Johannes 21, 31)

Aber in der postevangelikal / progressiven Theologie wird zunehmend gesagt: Was historisch passiert ist, ist nicht von größerer Bedeutung. Es kommt nicht darauf an, ob Jesus wirklich den Sturm gestillt hat. Hauptsache, er stillt den Sturm in unserem Herzen! Ganz ähnlich schreibt der Postevangelikale Jakob Friedrichs in seinem Buch „Ist das Gott oder kann das weg?“:

„Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig.“

Nun ist die Jungfrauengeburt im christlichen Glauben keine Nebensache. Sie wird in der Bibel eindeutig bezeugt samt allem Erstaunen und aller Aufregung, die dieses biologische Wunder verursacht hat. Und sie wird aufgenommen in die wichtigsten altkirchlichen Glaubensbekenntnisse (Apostolikum und Nicäno-Konstantinopolitanum). Sie ist von entscheidender Bedeutung für unsere Christologie, weil sie deutlich macht, dass Jesus nicht nur Mensch war, sondern von Beginn an auch menschgewordener Gott.

Entsprechend hat dieses Auseinanderreißen von Glaube und Geschichte gravierende Folgen für den christlichen Glauben. Wenn die Verankerung des Glaubens im realen geschichtlichen Handeln Gottes verloren geht, dann wird Theologie zum schönen Gedanken, der vielleicht kurz unser Herz erwärmt, der aber seine Kraft und seine Tiefe verliert. Nebenbei verliert die Bibel ihre Glaubwürdigkeit. Denn sie baut ja durchgängig darauf auf, dass Gott in der Geschichte gehandelt hat und dass wir ihm gerade deshalb vertrauen können. Deshalb bleibt es für Evangelikale entscheidend wichtig, Glaube und Geschichte zusammenzuhalten, so wie die Bibel das durchgängig tut und wie auch das historische orthodoxe Christentum das getan hat.

3. Trennung zwischen Vorbild und Stellvertretung

Die Bibel berichtet uns einerseits ausführlich vom Leben Jesu. Sie erzählt davon, wie Jesus sich mit uns Menschen solidarisiert hat: Mit unserer Menschlichkeit, mit unserem Leid, mit unserer Angst. Und zugleich malt sie uns Jesus als großes Vorbild vor Augen, dem wir nacheifern sollen. Sein Umgang mit den Schwachen, mit den Sündern, sein dienender Leitungsstil, seine Nächstenliebe, sein vergebendes Gebet für seine Feinde – in all dem sollen wir Jesus nachfolgen. Zudem hat Jesus gesagt: Wir sollen einander lehren, alles zu halten, was er uns befohlen hat (Matth. 28, 20). Jesus ist für uns Christen also DAS Vorbild schlechthin.

Aber hinzu kommt in der Bibel etwas, das mindestens genauso wichtig ist: In seinem Tod am Kreuz hat Jesus stellvertretend für uns gelitten. Er hat stellvertretend die Strafe auf sich genommen, die wir eigentlich verdient hätten aufgrund unserer Schuld. Er hat den Zorn und das Gericht Gottes auf sich genommen, das gerechterweise eigentlich uns hätte treffen müssen. Er hat uns damit losgekauft aus der Sklaverei der Sünde. Er hat für unsere Schuld gesühnt. Er hat uns dadurch mit Gott versöhnt. Er hat uns gerechtfertigt und erlöst. In allen biblischen Bildern von Sühne, Versöhnung, Rechtfertigung und Erlösung steht diese Stellvertretung im Mittelpunkt. Der große Theologe John Stott hat dies so formuliert: „Wenn Gott in Christus nicht an unserer Stelle gestorben wäre, könnte es weder Sühnung noch Erlösung, weder Rechtfertigung noch Versöhnung geben.“ [5]

In der Bibel und in der historisch-orthodoxen Theologie wird der Vorbildcharakter Jesu also immer untrennbar zusammengehalten mit dem stellvertretenden Opfertod Jesu am Kreuz. In der postevangelikal / progressiven Theologie wird dies jedoch zunehmend getrennt und folglich auch gegeneinander ausgespielt. Der Schwerpunkt wird immer stärker auf das Vorbild gelegt. Aber zur Stellvertretung wird zunehmend gesagt: Damit tun wir uns schwer. Gottes Gericht, Gottes Zorn, ein strafender Gott, das passt für uns nicht zu einem Gott, der doch die Liebe in Person ist. Gott braucht doch kein Opfer, um vergeben zu können. Gott kann doch einfach so vergeben. Dann reduziert sich die Christologie immer stärker auf diesen Solidaritäts- und Vorbildgedanken. Aber dass wir Menschen Sünder sind, die Vergebung, Errettung und Erlösung brauchen und die nur leben können, weil Jesus stellvertretend am Kreuz für uns gestorben ist, das tritt immer mehr in den Hintergrund oder es wird ganz aufgegeben. So schreibt zum Beispiel der Postevangelikale Jason Liesendahl in seinem Blog unter der Überschrift “Was ist progressive Theologie?”:

„Progressive deuten das Kreuz Jesu jedoch nicht im Sinne eines stellvertretenden Strafleidens. Progressiver Glaube ist nicht blutrünstig. Progressive orientieren sich an anderen Kreuzestheologien, wie dem solidarischen Ansatz: Am Kreuz zeigt sich Gottes solidarische Feindesliebe, die auch dann nicht aufhört, wenn der Mensch zum Äußersten greift. Diese Liebe ist stärker als der Tod, sie schafft neue Möglichkeiten, wo wir keine mehr sehen. Es geht bei Progressiven also nicht so sehr um ein Bekehrungserlebnis, das über Himmel und Hölle entscheidet. Es geht um einen ganzheitlichen Transformationsprozess, durch den Menschen immer mehr zu sich selber kommen können.“

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Meine Beobachtung ist: Postevangelikalismus und progressive Theologie ist im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld längst kein Randphänomen mehr, sondern sie ist insbesondere in den leitenden Ebenen auf breiter Front mehr oder weniger stark angekommen. Das gilt für fast alle größeren Verlage, Medien, Gemeindeverbünde, Missionswerke und selbstverständlich auch für Ausbildungsstätten. Nicht selten ist postevangelikale und progressive Theologie bereits vorherrschend und dominant. Was bedeutet diese Tatsache für die allianzevangelikale Welt? Wie gehen evangelikale Leiter mit dieser Situation um?

Damit befasst sich Teil 2 dieses Artikels, der in Kürze folgt.

Fußnoten:

[1] In „Biblische Hermeneutik“, 13. Auflage, S. 151

[2] In: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“, Göttingen 2012, S. 88

[3] In: „Jesus und die blutende Frau“, ab 36:57

[4] So schreibt zum Beispiel der freikirchliche Pastor Sebastian Rink in seinem Buch „Wenn Gott reklamiert“, dass er sich die Entstehung der Bibeltexte so vorstellt: „Menschen machen Erfahrungen. … Dabei bemerken sie, dass im Leben immer mal wieder große Geheimnisse auftauchen, mitten in ihrer alltäglichen Erfahrung: … Wo genau ist eigentlich mein Platz in der großen, weiten Welt unter der Sonne und zwischen den Sternen? Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Nach und nach entwickeln sie Ideen und erspüren Antworten. Sie suchen nach einer Sprache, die den Geheimnissen der Welt und des Lebens angemessen ist. Und sie (er-)finden Worte dafür. Das größte unter ihnen heißt „Gott“. … Irgendwann denken und erzählen sie nicht mehr nur, sondern schreiben. Sie dokumentieren, wie sie die Geheimnisse des Lebens und ihrer Gemeinschaft erleben. Sie halten fest, wie sie Gott erfahren. Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte. Das Beste setzt sich durch. Dokumente, an denen Menschen sich gemeinsam orientieren und die ihnen zum Maßstab (griechisch: Kanon) werden für ihren Umgang mit dem Geheimnis Gottes. So stelle ich mir das vor und biete an, einmal auf diese Weise an die Texte heranzugehen. Nicht in tiefster Ehrfurcht vor ihrer vermeintlichen Heiligkeit, sondern höchst ergriffen von ihrer schamlosen Menschlichkeit.“ (S. 25-26)

[5] In John Stott „Das Kreuz“, SMD Edition, S. 259

Dieser Blog-Beitrag von Markus Till erschien zuerst auf aufatmen in Gottes Gegenwart . Lies hier den Original-Artikel "Was unterscheidet evangelikale Theologie von postevangelikaler und progressiver Theologie?".

Über Dr. Markus Till

Evangelisch landeskirchlicher Autor, Blogger und Lobpreismusiker mit pietistischen Wurzeln und charismatischer Prägung

12 thoughts on “Was unterscheidet evangelikale Theologie von postevangelikaler und progressiver Theologie?

  1. Ich verstehe das nicht Markus. Auf der einen Seite sagst Du dass zwischen liberaler/postevangelikaler und progressiver Theologie gibt und es seit 2 Jahrhunderten in diese Richtung nichts wesentlich Neues unter der Sonne gibt. Auch wenn man die Liberalen nach den Gründen für ihre Neuausrichtung gab wie heute bei progressiven/postevangelikalen wird sich das auch nicht wesentlich unterscheiden. Wenn sich da nichts geändert hat und die Schrift auch nicht warum gibt es dann von seiten der konservativen keine klare Abgrenzung, keine theologisch roten Linien mehr. Warum muss man dann die postevangelikalen /progressive n fast noch verteidigen für Ihre Schritte und meinen, dass sie doch irgendwie evangelikal sind? Nein sind sie eben nicht mehr!! Merkst Du eigentlich nicht selbst, dass dies eine total unlogische Vorgehensweise ist?

  2. Die Liberalen und Progressiven und wohl zum Teil auch die Postler, sehen Jesus nicht mehr als Sohn Gottes, der Wunder wirken kann, der den Sturm stillen kann, der vom heiligen Geist gezeugt wurde usw. sondern nur als Mensch, der die Menschen zur Solidarität aufrief und der auch keinerlei prophetische Gaben hatte (Zimmer).
    Sie selber haben ja die Gaben auch nicht und tun auch keine Wunder im Namen des Herrn. Man geht also von sich selber aus und meint, der Herr sei auch nur ein Mensch gewesen.
    Nur: Es hat Christen im ev. und kath. Raum gegeben, die die Gabe der Prophetie hatten, deren Gebete, auch Gebete um Heilung, Gott erhört hat, diese aber haben am Wort Gottes keine Abstriche gemacht.

    Jesus war Gott im Fleische und Gott ist der Schöpfer der ganzen Schöpfung. Der Mensch ist dagegen vergleichsweise ein Wurm. der sich vor Gottes Heiligkeit und Größe beugen muss und genau das wollen viele nicht. Sie wollen selber Herren sein und herrschen und die Menschen mit ihren eigenen „Weisheiten“ belehren und führen sie dadurch ins Verderben.
    Bei Gott aber geht es um das EWIGE HEIL, das sich kein Mensch verdienen kann. sondern das uns nur durch den Glauben an Jesus und seine Verdienste am Kreuz, seine Gnade und sein blutiges Opfer am Kreuz gewährt wird.
    Die Modernen haben das nicht begriffen und wollen ihr eigenes Heil schaffen, das aber gelingt nicht, weil der Mensch seit Adam und Eva gefallene Schöpfung ist und ohne Berufung auf Jesu Gnade und Verdienst keine Vergebung seiner Sünden erlangen kann. Am Ende soll ja dadurch Jesus in unser Herz einkehren und wir sollen einmal wie Paulus sagen können: Nicht mehr ich lebe, sondern Jesus lebt in mir. Paulus war ja nicht der einzige Mensch, der das von sich sagen konnte. Schaut doch mehr auf die Menschen, die Gottesmänner und -frauen, die in Jesus verwandelt waren und nicht auf die modernen Theologen, die uns kein Heil bringen mit ihren Redensarten. In der kath. Kirche findet man etliche und auch einige bei den Evangelischen. An denen haben sich die Worte Jesu buchstäblich erfüllt, von neuem geboren zu sein und Überwinder zu werden wie die Offenbarung es ausdrückt.
    „Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“

  3. Wenn der Traum nach Einheit größer ist als das Trachten nach dem Reich Gottes, dann ist scheinbar jedes Mittel recht etwas zusammenzuhalten was nicht zusammen gehört. Das Problem dabei ist, das Evangelium wird in der Öffentlichkeit immer unglaubwürdiger, und eine Gleichgültigkeit legt sich auf die unlösbaren Streitereien. Aber so ist das, wenn das Wort Gottes für eigene Ziele missbraucht wird dann werden alle die mit am Tisch sitzen verstrickt in Lüge und Betrug.
    Was dabei herauskommt ist klar:
    ,,Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz kraftlos wird, womit soll man’s salzen? Es ist zu nichts hinfort nütze, denn daß man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten. “ Mt 5. 13
    Es passiert also genau das Gegenteil von dem was man eigentlich erreichen will.

  4. Frage mal: Haben eigentlich die evangelische Kirchen samt Freikirchen nichts mehr zu bieten als nur die Bibel, die sie ja auch von der kath. Kirche weitgehend übernommen haben?
    Meine Frage spielt auf die ev. Tradition an. Gibt es da gar nichts, was bei so einer Diskussion, die sich ja nur um Entwicklungen dreht, die neueren Datums sind, erwähnt werden müsste? Immerhin gibt es ev. Richtungen ja nicht erst sei hundert oder hundertfünfzig Jahren.

    1. Wieso NUR die Bibel? Die Schrift reicht aus! Es gibt im evangelischen und freikirchlichen viele gute und schöne Traditionen und Gewohnheiten, die allerdings keinen Lehr- oder Offenbarungscharakter haben. Zusatzoffenbarungen wie bei Mormonen, NAK, Zeugen Jehovas und bei anderen sind nicht vereinbar mit den 5 Solas der Reformation.

      1. Ich denke, du hast nicht so ganz verstanden, worum es mir ging. Angedeutet habe ich das ja auch in einem vorigen Post.
        Dass die Bibel für die Evangelischen massgebend ist, ist klar. Mir ging es aber nicht um die Bibel als Wort Gottes, sondern darum wie die Bibel in einem Menschen lebendiges Wort Gottes wird.

        Warum weist man in den ev. Richtungen selten oder nie auf Gläubige hin, die durch ihr Leben allein die modernen Theologen und deren Bibelkritik widerlegen. Gab es solche Menschen gar nicht?

        Sicher gab es die. Allein die Kirchengeschichte beweist doch, dass der Glaube an die Bibel oder um es kath. zu sagen, der Glaube der Kirche kein Unsinn sein kann, denn er hat sich in vielen Menschen erfüllt, in manchen sogar ganz besonders. Die Worte Jesu sind lebendig geworden ! Davon liest man aber bei Markus Till so gut wie nichts. Man kann es doch nicht so machen wie die Neuapostolischen, die meinen, ja es hat die Apostel mal gegeben und dann war 1800 Jahre nichts bis sie mit ihrer Sekte der neuen Apostel gekommen sind.

        Was die Evangelischen angeht, da gab es seit Luther auch Gläubige, die man ernst nehmen muss und die durch ihr Leben bewiesen haben, dass Jesu Worte, wenn sie ernst genommen werden, einen Menschen so sehr umformen können, dass man ihn nicht mehr wieder erkennt und ihm auch Gaben zuteil werden können, die im NT beschrieben werden, die aber von den modernen Theologen als Märchen angesehen werden.
        Das aber ist Glaubenspraxis und nicht nur theologischer Streit. Wir brauchen nicht nur allein auf die Apostel hinweisen, das ist rund 2000 Jahre her und wird von vielen leider nicht mehr geglaubt. Wir haben eben auch in jüngerer Zeit GlaubensZEUGEN, die die Wahrheiten der Bibel aufleuchten lassen. Dagegen sind doch die mod. Theologen nur verkopfte Nichtswisser.

        1. Jetzt ist es klar und in diesem Punkt hast Du vollkommen Recht. Leider werden Leute wie Paul Schneider, Dietrich Bonhoeffer, Corrie ten Boom und andere viel zu selten im evangelikalen Bereich als Glaubenszeugen thematisiert. Dass es unter Umständen gefährlich sein kann sich zum Glauben zu bekennen kommt in vielen Gemeinden nicht mehr vor. Nein wir sollen gesellschaftlich anpassungsfähig sein und blenden damit aus, was in der Schrift dazu steht. In vielen Freikirchen ist der Trend auch sehr bedenklich nur noch Lobpreislieder aus den letzten 10 Jahren zu singen und damit auch die Lebenszeignisse der Liederdichter auszublenden. Auch genauso Menschen, die im sozialen Bereich Beeindruckendes geleistet haben wie Bodelschwingh. Dieses Vergessen unseres geistlichen Erbes führt auch dazu dass die Protagonisten der postevangelikalen und progressiven Bewegungen es so leicht haben viele Christen und Gemeinden in die Irre zu führen.

          1. Ich hatte im ev. Bereich eher an Menschen gedacht wie Johannes Gommel oder Tersteegen, aber diejenigen, die du erwähnst, gehören ja auch zu den Glaubenszeugen.
            Im kath. Raum ist es Fratel Cosimo aus Italien, der ja noch lebt. Man kann auch Pater Pio nennen, aber der ist vielen suspekt, vor allem denen aus dem ev. Bereich.
            Was die Lieder angeht, da hast du recht. Ich habe diese meist flachen Lieder schon oft angeprangert.
            Die ganze Sache sieht oft so aus: Da bildet sich irgendwo eine neue Freikirche ohne irgendeine Tradition. Deren Prediger hampeln auf der Tribüne herum und haben ausser Grundsätzlichen wenig zu sagen, da sie keine Erfahrung haben, aber meine die halbe Stadt bekehren zu können, was aber nicht klappt. Für Gläubige, die wir hier meinen, interessieren sie sich nicht, da sie selber die Könige sein wollen.. Mich überzeugt das alles nicht. Ich übertreibe mal: Dann will jeder, der kaum singen kann, auch noch ein neues Lied machen. Liedermacher nennt man die, aber man merkt, das die Lieder gemacht sind, im Gegensatz zu vielen alten Liedern. Da sie oft unbekannt sind, muss man den Text an die Wand werfen. Ich habe das erst vor einigen Wochen auch in der kath. Kirche erlebt und wäre fast wieder gegangen, wenn der Gottesdienst, nicht durch die Predigt, jnhaltlich gut gewesen wäre und dann auch noch singbare gut Lieder gekommen wären.
            Jedenfalls ist doch eines klar: Die Bibelkritiker übersehen tausendfach, dass es Gläubige gab oder gibt, die etwas von dem erlebt haben, was auch schon die Apostel erkannt und geschrieben haben. Gott kann das Leben eines Menschen neu machen, der Mensch kann das aus eigener Kraft nicht. Wie sehr die Erneuerung erfolgt, hängt von unserer Hingabe ab. Meine Geschäftspartnerin hat seinerzeit meinem Seelsorger quasi einen Dankesbrief geschrieben, ich sei nicht mehr der alte Mensch.

          1. Albert Schweitzer kenne ich nicht so genau. Ich weiss nur, dass er in Afrika den Menschen als Arzt sehr geholfen und damit Gutes gewirkt hat. Er soll sonst aber eher liberal gewesen sein. Ob das zutrifft, keine Ahnung.

  5. Ergänzen wollte ich noch folgendes:

    Den Himmel hier schon zu erleben, wenigstens partiell, das macht auch das Christentum aus und dann hat man keine Zweifel mehr daran, dass die heilige Schrift in ihren grundlegenden Aussagen wahr ist. Freilich wird es im Himmel noch viel schöner und viel intensiver sein, als wenn man hier auf Erden Jesus schon etwas erlebt.
    Den Himmel hier schon zu erleben, wenn auch noch in einem geringen Grad, das kann einem niemand mehr wegnehmen, egal welcher Theologe und wer immer da auch kommen mag. Dann können einem die Evangelikalen und auch die Postevangelikalen egal sein. Wir müssen alle für uns selber sorgen, dass wir das ewige Heil und auch die Heiligung soweit wie möglich erlangen, egal was andere sagen.

  6. Hallo!

    Ich mal Jay und Micha live gefragt, was postevangelikale Dekonstruktion ist. M. Michalzik meinte, postevangelikale Dekonstruktion ist, wenn man vor dem Scherbenhaufen des bisherigen Glaubens steht und sich weltanschaulich in beliebige Richtungen entwickeln kann. Thorsten Dietz ist zwar mittlerweile anderer Meinung, aber die Antwort von M.Michalzik ist bei mir hängengeblieben.
    Es kann daher keine postevangelikale Theologie geben. Es ist auch sinnlos, über postevangelikales Denken zu diskutieren.
    Die Verabschiedung der Hölle als Ort ewiger Folter und der Unsterblichkeit der Seele haben mit Postevangelikalismus gar nichts zu tun. Edward Fudge identifiziert sich in seinem Hauptwerk The Fire That Consumes, Third Edition, eindeutig als evangelikalen Christen, der einfach nur klarstellen will, was die Bibel wirklich sagt. Auch seine annihilationistischen Anhänger wie Chris Date haben das Wort „postevangelikal“ noch nie auch nur in den Mund genommen.
    Auch die Infragestellung mosaischer Gebote sollte im bibeltreuen Rahmen möglich sein. Das Gesetz des Mose widerspiegelt keine perfekte Ethik, meinte anscheinend Johannes Calvin: https://www.researchgate.net/publication/360490011_John_Calvin_on_the_Intersection_of_Natural_Roman_and_Mosaic_Law
    Siegfried Zimmer ist in letzter Zeit wieder teilweise evangelikal geworden. So hat er Gründe aufgezählt, warum Jesus wirklich auferweckt wurde. Neulich führte er die Offenbarung des Johannes auf gottgewirkte Visionen zurück, während die historisch-kritische Stuttgarter Studienbibel meint, die Behauptung von Visionen diente nur dem Autoritätsgewinn des Verfassers, der einfach viel von 1. Henoch, 2. Baruch und anderen Schriften abgeschrieben habe.
    In der Universitätstheologie scheint es einen Gegensatz zwischen einem theozentrischen und einem anhropozentrischen Ansatz zu geben. Frag mal Michael Czylwik, was Johannes von Lüpke dazu im März berichtet hat!

    Alles Gute!

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