„Letzte Autorität ist allein die Schrift selbst.“
Mit diesem kurzen Satz beschreibt Ruprecht Veigel von der Deutschen Bibelgesellschaft die Position Martin Luthers, die für die evangelische Kirche grundlegend war. In seinem Artikel bei evangelisch.de macht Veigel zugleich Werbung für das bibelkritische „Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet“ (WiBiLex)[1]. Ist Kritik an der Bibel für ihn kein Widerspruch zur Autorität der Bibel?
Schon dieses kleine Beispiel zeigt: Die Rede von der „Autorität der Bibel“ klingt für konservative Christen zwar gut. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber: Sie sagt eher wenig aus über den tatsächlichen Umgang mit der Bibel.
Denn nicht nur Theologen können unter „Autorität“ sehr unterschiedliche Dinge verstehen:
Autorität ist nicht gleich Autorität
Wenn wir an “Autoritäten” denken sollen, dann fallen jedem von uns ganz andere Beispiele ein. Manche Menschen empfinden ihre Eltern als „Autoritäten“, weil sie uns in unserer Kindheit geprägt und geformt haben – auch wenn man ihnen inzwischen längst ein selbstbewusstes Gegenüber ist.
Ganz ähnlich wird bis in liberalste theologische Kreise hinein durchaus anerkannt, dass die Bibel eine Autorität ist. Schließlich hat sie das Christentum geprägt und geformt. Aber man sagt zugleich: Wie unsere Eltern ist auch die Bibel ein Kind ihrer Zeit. Vieles können wir von ihr lernen. Aber in manchem können wir sie heute so nicht mehr stehen lassen. Wir fühlen uns dem “wissenschaftlichen Zweifel” verpflichtet, der uns zum kritischen Gegenüber der Bibel macht. Welche Aussagen man heute noch ernst nimmt und welche nicht, hängt letztlich von der persönlichen Einschätzung ab – und vielleicht auch vom persönlichen Empfinden.
In seinem Worthausvortrag zur Entstehung und Autorität des Neuen Testaments[2] sagt Thorsten Dietz zu seinem Verständnis von biblischer Autorität (ab 1:15:20): „Ein Mensch hat Autorität, wenn er eine Sache besser kennt, wenn er einen Weg besser kennt, wenn er einen Zusammenhang durchschaut. Und wenn man ihm das abkauft, wenn man ihm das abnimmt, na ja, dann hört man auch auf ihn, dann lässt man sich auch was sagen. Und dann ist es auch hilfreich. Und ich denke, das ist das Besondere bei Jesus, bei Paulus, bei den Aposteln, dass Menschen hier spüren: Sie hören Jesusworte und sagen: Das hätte ich jetzt nicht besser gewusst, gar nicht. Und ich merke, dass er es aus einer Gewissheit sagt und aus einer Überzeugung heraus, die ich so nicht habe. Und ich merke, dass es mich anspricht und dass es mich fasziniert.“
Entsprechend ordnet Dietz auch den Charakter der Paulusbriefe ein: „Paulus ist nicht in diesem Sinne autoritär, sondern er sagt: Denkt nach, prüft, fragt. Prüfet alles. Behaltet das Gute. Er ist sehr stark in seinen Überzeugungen. So, und er sagt: Wenn ihr das noch anders seht, wird Gott es euch anders lehren. So aber er lässt sich auf Gespräch, auf Diskussion ein. Er ist nicht von einem falschen Autoritarismus, sondern seine Autorität ist befreiend, anregend, fördernd. Sie will befähigen zum Nachdenken, Anstöße geben.“ (ab 1:13:30)
Hängt die Autorität der biblischen Texte also davon ab, wie überzeugend und ansprechend wir sie persönlich finden? Sollen wir die Briefe von Paulus gar prüfen und nur das in unseren Augen Gute behalten? Was machen wir dann mit Bibeltexten, die uns erst einmal überhaupt nicht einleuchten, geschweige denn faszinieren?
Die Autorität eines TOP-Experten
Auch wenn man solche Aussagen so verstehen kann, dass hier letztlich das eigene Empfinden der Maßstab für die Autorität der Bibel ist, so bedeutet das trotzdem nicht unbedingt, dass die biblische Autorität klein gemacht wird. Nach meiner Wahrnehmung hat die Bibel im progressiv-/postevangelikalen Bibelverständnis oft eine durchaus hohe Autorität, die man vielleicht mit der Autorität eines Nobelpreisträgers vergleichen könnte. Das hat folgenden Grund:
Viele progressive und postevangelikale Vertreter erkennen grundsätzlich die uneingeschränkte Autorität Jesu an. Und sie verstehen, dass die biblischen Autoren eine Nähe zu Jesus hatten, die wir heute nicht mehr haben. Insofern gelten biblische Autoren als höchstrangige TOP-Experten und echte „Autoritäten“, weil sie unschlagbar nahe an der uneingeschränkten Autorität Jesu waren.
Aber: Auch Top-Experten und Nobelpreisträger sind natürlich Kinder ihrer Zeit. Auch sie können durchaus mal falsch liegen. Entsprechend ist es auch im progressiv-/postevangelikalen Bibelverständnis völlig normal, von „Fehlern“ in der Bibel zu sprechen. „Sachkritik“ gehört auch hier ganz selbstverständlich zum theologischen Werkzeugkasten dazu. Das heißt: Es bleibt trotz der hohen Autorität der Bibel möglich, auch eindeutige, bibelwissenschaftlich sauber erarbeitete gesamtbiblische Aussagen aus heutiger Sicht zurückzuweisen – sofern man überhaupt mit biblischen Gesamtaussagen rechnet und die Bibel nicht nur als Sammlung widersprüchlicher Stimmen ansieht.
Die Autorität der Bibel hängt an ihrer göttlichen Urheberschaft
Welches Konzept hat nun die Bibel selbst zu ihrer Autorität? In 2. Petrus 3, 16 lesen wir:
„In diesen ⟨Briefen⟩ ist einiges schwer zu verstehen, was die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben.“
Petrus macht also klar: Die Autorität der Paulusbriefe hat rein gar nichts mit unserem Empfinden zu tun. Sie hängt nicht daran, ob wir sie verstehen oder ob sie uns beeindrucken. Denn die Paulusbriefe gehören für ihn zu den „Schriften“. Damit ist aus jüdischer Sicht der Kanon der heiligen Schriften gemeint. Über diese Schriften sagt Petrus, „dass keine Weissagung der Schrift aus eigener Deutung geschieht (bzw. „eine Sache eigener Deutung ist“). Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern von Gott her redeten Menschen, getrieben von Heiligem Geist.“ (2. Petrus 1, 20b+21).
Die dringende Warnung davor, Schriftaussagen zu verdrehen, begründet Petrus also damit, dass diese Aussagen letztlich göttlichen Ursprungs sind. Und für einen gläubigen Juden ist klar: Gott sollte man besser nicht widersprechen!
Tatsächlich bestätigt auch Gerhard Maier in seinem Buch “Biblische Hermeneutik” diesen Selbstanspruch der göttlichen Autorität biblischer Texte:
„Diese Offenbarung beansprucht, aus Gottes Geist hervorgegangen zu sein. Sie ist … Anrede Gottes an uns. Wer sie hört, hört in erster Linie nicht die menschlichen Verfasser und Glaubenszeugen, sondern den dreieinigen ewigen Gott. … Als einzigartiges Reden Gottes hat sie eine einzigartige, unvergleichliche Autorität.“ (S. 151)
Die Bibel gründet ihre Autorität somit in der Autorität Gottes. Den Bibeltext in Frage zu stellen, bedeutet in dieser Sichtweise, Gott selbst in Frage zu stellen. Natürlich können und müssen wir auch in dieser Sichtweise darum ringen, den Bibeltext richtig zu verstehen und auszulegen. Aber Sachkritik (also Kritik an einer Aussage, die der biblische Autor tatsächlich machen wollte), kann in dieser Sichtweise niemals eine angemessene Antwort auf die Texte sein. Wenn Gott spricht, können wir nur glauben, vertrauen und unsere eigene Position in Frage stellen. Die Bibel kritisiert dann ausschließlich uns – niemals umgekehrt. Sie ist in einem gewissen Sinn „unfehlbar“, weil Gott eben keine Fehler macht, wie Heinzpeter Hempelmann schreibt[3]:
„Die Bibel ist nicht teilweise Wort Gottes, in anderen Teilen bloß Menschenwort … Es maßte sich ja einen ‚Gottesstandpunkt‘ an, wer in ihr unterscheiden wollte zwischen Gottes- und Menschenwort, zeitbedingt und zeitlos gültig. … Sowohl philosophische wie theologische Gründe machen es unmöglich, von Fehlern in der Bibel zu sprechen. Mit einem Urteil über Fehler in der Bibel würden wir uns über die Bibel stellen und eine bibelkritische Position einnehmen … Die Bibel ist als Gottes Wort Wesensäußerung Gottes. Als solche hat sie teil am Wesen Gottes und d.h. an seiner Wahrheit, Treue, Zuverlässigkeit. Gott macht keine Fehler.“
Theologische Welten trennen sich
Die pure Aussage, dass die Bibel Autorität hat, sagt also noch nicht allzuviel über den tatsächlichen Umgang mit der Bibel aus. Man muss schon noch klarstellen, welche Art von Autorität man meint: Die Autorität eines Familienoberhaupts? Die Autorität eines TOP-Experten? Oder die unfehlbare Autorität Gottes? Entsprechend hat die Bibel entweder eine Autorität, gegenüber der man sich emanzipieren darf oder die man zumindest kritisieren kann – oder bei der die Bibel grundsätzlich immer das letzte Wort hat.
Diese verschiedenen Autoritätsbegriffe hängen wiederum letztlich an der Frage: Ist die Bibel im echten Sinn „Wort Gottes“? Oder bezeugt sie die Worte Gottes nur durch menschlich fehlerhafte Berichte? Die Autorität der Schrift hängt also letztlich an der Frage, ob wir zwischen Schrift und Offenbarung unterscheiden – oder ob der Bibeltext im echten Sinn Offenbarung IST, so wie es z.B. die evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis bekennt.
Diese Differenz mag auf manche vielleicht kleinkariert und theoretisch wirken. Die Praxis zeigt aber: Hinter diesen Weichenstellungen tun sich komplett unterschiedliche theologische Welten auf – mit weitreichenden praktischen Konsequenzen. Das betrifft auch die allerzentralsten Fragen des Glaubens: Was ist eigentlich das Evangelium? Was ist der Auftrag der Kirche? Besonders sichtbar werden diese Differenzen schlussendlich in der (Sexual-)Ethik.
Die Folge ist: Landauf landab gibt es Spaltungstendenzen. Das liegt nicht daran, dass viele Christen so streitsüchtig sind. Die Ursache ist vielmehr, dass die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Autorität der Bibel letztlich zu ganz anderen Auslegungsergebnissen führen. Wer mit derart grundverschiedenen Positionen in der gleichen Organisation zusammengespannt ist, merkt schnell: Wir ziehen faktisch in unterschiedliche Richtungen. Wenn wir trotzdem versuchen, zusammen zu bleiben, dann werden wir uns gegenseitig ausbremsen und lähmen. Es ist genau diese Lähmung, die heute in vielen Kirchen, Gemeinschaften und Gemeinden spürbar ist und die viele Christen zu der Frage führt, ob dann nicht doch eine Trennung der bessere Weg für Alle wäre.
Zurück zur göttlichen Autorität
Wie schön wäre es, wenn wir gemeinsam zur reformatorischen und biblischen Sichtweise von der biblischen Autorität zurückfinden könnten. In seiner „Institutio“ schreibt der Reformator Johannes Calvin:
„Deshalb kann die Bibel nur dann den Gläubigen gegenüber volle Autorität erlangen, wenn sie gewiss wissen, dass sie vom Himmel herab zu ihnen kommt, als ob Gottes eigene Stimme hier lebendig vernommen würde.“ (Institutio I, 7,1)
Diese Klarstellung, dass die biblischen Texte göttlichen Ursprungs sind, ist bis heute unerlässlich für einen gesunden Begriff von biblischer Autorität, der uns als Kirche Jesu eine gute gemeinsame Grundlage geben kann.
Fußnoten:
[1] Siehe dazu die Ausführungen im AiGG-Artikel: “Das wunderkritische Paradigma – der heimliche Spaltpilz der Christenheit” https://blog.aigg.de/?p=5240
[2] Siehe dazu meine ausführliche Diskussion dieses Vortrags in: „Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons – Einsichten in das Bibelverständnis von Thorsten Dietz“ in „Glauben und Denken heute“ 2/2021, S. 6-13: https://www.bucer.de/fileadmin/dateien/Dokumente/GlaubeundDenkenheute/GuDh_2_2021.pdf
[3] Heinzpeter Hempelmann: Plädoyer für eine Hermeneutik der Demut. Zum Ansatz einer Schriftlehre, die von der Schrift selbst zu lernen sucht, in: Theologische Beiträge 33 (2002) 4, S. 179–196, Abschnitt 2.5 und 3.2, online unter https://www.eh-tabor.de/sites/default/files/wissenschaftliche_arbeiten/plaedoyer_fuer_hermeneutik_der_demut.pdf
Dieser Blog-Beitrag von Markus Till erschien zuerst auf aufatmen in Gottes Gegenwart . Lies hier den Original-Artikel "Die Autorität der Bibel – ein klärungsbedürftiger Begriff".
Man kann noch so sehr über die Autorität der Bibel diskutieren, aber die Sicht, die man über sie hat, hängt eben auch von der eigenen Glaubenssubstanz ab. Wenn die zu mager ist, dann wird man auch die Bibel infrage stellen, zumindest teilweise.
Der jetzige Bundespräsident Steinmeier ist doch das beste Beispiel dafür, indem er beim ev. Kirchentag Jesus als Zauberer gesehen hat, der angeblich Wasser in Wein verwandeln konnte, lt. Steinmeier, der das angezweifelt hat. Ja, diese Scheingläubigen sehen in Jesus nicht den Sohn Gottes, der auch Macht über die Materie und die Elemente hat, sondern meinen, Jesus sei auch nur ein normaler Mensch gewesen wie sie selber auch. In der Kirchengeschichte werden aber viele Wunder berichtet bis zum heutigen Tag, das nehmen diese Scheingläubigen und christlich Angehauchten aber nicht zur Kenntnis. Ebenso viele Theologen nicht.
Genau richtig, und dann wie Markus die Hoffnung zu gaben, dass alle zu einem bibeltreuen Autoritätsverständnis der Schrift kommen ist einfach nur naiv und führt in die falsche Richtung. Alleine der heute zu Ende gehenden Kirchentag ist doch Beweis genug dass dies nicht funktioniert. Es braucht einen sichtbaren Gegenentwurf wie 1934 mit der Bekennenden Kirche. Alles andere ist heisse Luft
Die beste Bibel-Lehre kommt aus dem jüdischen Volk.
Dr. Baruch Korman (Messianischer Jude) ist Bibellehrer und leitender Dozent am Abraham Institut in Israel und beleuchtet im Besonderen den jüdischen Hintergrund der Heiligen Schriften.
Gott ist gerecht – die Gerechtigkeit Gottes wird zu allen kommen.
Evangelischer Kirchentag endet mit ekelhafter Gotteslästerung und die Menge klatscht!
Die Menschen werden halt von der Kirche für dumm verkauft und das sind die meisten ja auch. Ok, es gibt da und dort noch einige gläubige Pfarrer als Minderheit.
Auch zu Zeiten, wo die Autorität der Bibel noch nicht infrage gestellt worden ist, waren sich die Nurbibler, betreffend der Bibelauslegung nicht einig. Die einen, die Lutheraner hatten eine andere Vorstellung als beispielsweise die Calvinisten oder andere. Darauf hat auch vor einiger Zeit ein ev.. Theologe in einem Vortrag hingewiesen.
Gute evangelische Christen wie ein Gerhard Tersteegen und andere waren seinerzeit auch immer umstritten, weil sie den Glauben ernster nahmen als manche Pfarrer, denen das nicht passte. Die Reformation hat also auch keine Einheit gebracht, mal ganz abgesehen von dem, was wir heute sehen können. Jetzt ist die Zersplitterung ja noch viel grösser.
Diese Differenzierung gab es schon in der Frühphase der Kirche, was man an den paulinischen Briefen sieht. Paulus verlangte keine Gleichmacherei, aber Gemeinsamkeit in den grundlegenden Fragen und klare Abgrenzung von falschen Lehren nach 2. KOR. 6. . Besonders an letzterem hat es immer wieder an Mut gefehlt und das besonders gerade heute.
Ich glaube, der Ansatz bei dem Thema müsste ein anderer sein. Das versteht der Herr Till m.E. aber nicht unbedingt. Es geht in Glaubensfragen immer um Jesus und am Ende um sonst nichts. Anders gesagt, wenn die Bekehrung der Menschen nur unzureichend ist, dann kommen am Ende auch Zweifel an der Bibel heraus. Und ich glaube auch nach Gesprächen mit manchen Christen, dass deren Bekehrung unzureichend ist oder war. Haben sie auch Wiedergutmachung geleistet, wo es möglich war? Solche Frage tauchen da ja auch auf. Haben sie alle ihre Sünden bekannt oder die schlimmen verschwiegen? Von mir selber weiß ich, das ich genau 30 hatte, die zu bekennen waren und für einige auch Wiedergutmachung nötig war. Vorher hatte ich keine Ruhe.
Man kann den Menschen das richtige Bibelverständnis auch nicht reinhauen, wenn das Verständnis dafür fehlt. Ich sehe das u.a. auch bei manchen christlichen Seiten bei Facebook, wo kurze Bibeltexte eingestellt werden, auch schwerer verständliche, wo die Antworten meist nur Amen sind. Mit Amen ist es aber nicht getan, denn das Verstehen mancher Texte ist an Voraussetzungen gebunden, die nicht jeder Christ hat. Da kommt also manches zu kurz. Warum hat Gott Jesus ohne Zutun eines Mannes von einer Frau gebären lassen? Maria war eben nicht ein beliebiges Strassenmädchen wie ein deutscher Prediger meinte, es hätte evtl. so sein können.