Die Bibel als „primum principium“. Noch eine Antwort an Daniel Facius

Vor mir liegt noch immer die Aufgabe, auf die zweite Anfrage von Daniel Facius zu antworten, die er in seiner Rezension (unter anderem bei bibelbund.de und evangelium21.net) an mein Buch „Tief verwurzelt glauben“ gerichtet hat. Anlass für seine Kritik sind die Seiten 117-119 und 250. Es geht um die Frage nach den Denkvoraussetzungen, von den aus wir Gott erkennen können.

Ich hatte vorher die Denkvoraussetzungen der Früh- und Spätaufklärung und der Postmoderne dargestellt und war dann zu Luther gekommen, der die Bibel ausdrücklich als „primum principium“, als ersten Ausgangspunkt, als Grundlage und Maßstab für unser christliches Denken benennt (das zugehörige Luther-Zitat aus seiner Schrift „assertio omnio articulorum“ findet sich auf S. 117). Ich lege jedoch auf ein kleines Detail in diesem Luthertext wert, der gern überlesen wird: Die Bibel ist unser „erster Ausgangspunkt“ in ihrem Gebrauch. Also die Bibel selbst im Zuge ihres Gelesenwerdens, nicht die Lehre von der Bibel als „Wort Gottes“, wie es die Lutherische Orthodoxie festgelegt und verteidigt hatte [1].

Das hat zunächst einen formallogischen Grund: Das Wesen eines Prinzips oder Axioms ist, dass es nicht begründet werden kann, sondern es wird geglaubt, d.h. unbewiesen als Ausgangspunkt des Denkens angenommen. Der Anspruch der „Lehre von der Bibel“ war aber gerade, die Bibel als Ausgangspunkt zu begründen und zu verteidigen. Dabei wurde sie selbst statt der Bibel das „primum principium“, und so hatte der theologische Liberalismus leichtes Spiel. Das ist einer der beiden Gründe, warum ich auf diese Unterscheidung Wert lege.

Aber sie leuchtet Daniel Facius nicht ein:

„Nun mag es sein, dass sich das Schriftprinzip auf den Schriftgebrauch bezieht, Gott offenbart sich aber in der Schrift nicht nur, ‚wenn wir sie gebrauchen‘ (S. 118). Auch verworfen und hinterfragt, kritisiert und ungetan bleibt die Schrift Gottes Offenbarung – und damit der bessere Ansatzpunkt für das primum principium. Ob wir dieses Prinzip tatsächlich anerkennen, zeigt sich dann daran, ob wir die Schrift ‚gebrauchen‘.“

Können ontologische Begrünudngen postmoderne Menschen überzeugen?

Man nennt diese Argumentationsfigur eine „ontologische Begründung“, weil sie vom „Sein der Dinge an sich“ ausgeht. Und wer das zweite und dritte Kapitel meines Buches gelesen hat, der erkennt vielleicht das Problem dieser Figur: Sie setzt das korrespondenztheoretische Wahrheitsverständnis voraus (S. 45-46). Demnach gibt es ganz objektive Sachen, die einfach so sind, wie sie sind, und die Aufgabe der Erkenntnis ist, die Übereinstimmung zwischen dem Verstand und dieser vorgegebenen Sache herzustellen. Schon in der Moderne, aber erst recht in der Postmoderne haben die Menschen, zu denen Jesus uns in Mt 28,18-20 sendet, aber ein ganz anderes Wahrheitsverständnis, laut dem „Sachen“ außerhalb der menschlichen Erkenntnis entweder nicht objektiv erkennbar sind oder ganz einfach nicht existieren (Kap. 2.4 und 2.6). Jemand mit einem solchen Wahrheitsverständnis wird aus Facius‘ Begründung allenfalls einen Machtanspruch herauslesen, könnte also in ihr nicht das hören, was Facius eigentlich sagen möchte. Die Begründung begründet für diesen Menschen nichts, sie läuft ins Leere. Und genau das ist das Problem, das ich mit dieser Passage in meinem Buch zu lösen versuche.

Denn es fehlt da eine Bezugsebene, und damit kommt die „Relation“ (Beziehung) ins Spiel: „Gott offenbart sich aber in der Schrift nicht nur, ‚wenn wir sie gebrauchen‘“ – wem? Wem offenbart sich Gott in der Schrift, wenn er sie nicht gebraucht? Das möchte ich mal sehen – wie stellt Facius sich das vor, dass sich Gott einem Menschen in der Bibel offenbart, während diese ungelesen im Schrank steht? Mir zumindest hat sich Gott genau in dem Moment offenbart, in dem ich die Bibel das erste Mal aufgeschlagen habe (die Geschichte steht in meinem Buch S. 36-37). „Auch verworfen und hinterfragt, kritisiert und ungetan bleibt die Schrift Gottes Offenbarung“ – aber sicher nicht für den, der sie verwirft und hinterfragt, kritisiert und beiseitelegt. Und genau darauf kommt es laut dem Missionsbefehl Jesu doch an! Wir können ihn nicht erfüllen, wenn wir uns auf das „Sein“ der Bibel als Gottes Wort zurückziehen und nicht dafür sorgen, dass die Leute gerade ins faktischer Bibellesen hineinkommen. Nun macht der Bibellesebund, bei dem Facius arbeitet, ja extensiv genau dieses: Er schafft Menschen von heute Zugänge zur Bibel, damit sie sie lesen (also gebrauchen) können. Eigentlich setzt der Bibellesebund in hervorragender Weise genau das um, was ich in meinem Buch geschrieben habe.

Welche Rolle spielt, was wir von der Bibel denken?

Aber – so fragt Facius – hängt das nicht eben doch in besonderer Weise davon ab, was wir von der Bibel denken? Facius moniert meinen Satz: „Nicht was wir über die Schrift denken ist wichtig, sondern dass wir sie so lesen, dass wir Gottes Stimme in ihr hören“ (S. 250), und schreibt:

„Die Unterscheidung scheint im Hinblick auf die vorhergehenden Darlegungen kaum nachvollziehbar, denn ob wir die Schrift so lesen, dass wir Gottes Stimme in ihr hören, hängt eben ganz entscheidend davon ab, was wir von ihr denken. Wieso das keine „Voraussetzung“, sondern lediglich ein „Nach-Denken“ sein soll, erschließt sich nicht. Hohage selbst hat dargestellt, wie etwa ein „historischer“ Zugang mit entsprechendem Frame dazu führt, dass Gottes Stimme a priori ausgeblendet wird. Es erscheint offensichtlich, dass das, „was wir von der Schrift denken“, ganz maßgeblich beeinflusst, wessen Stimme wir in ihr hören. Das Denken geht dem Gebrauch sowohl zeitlich als auch logisch voraus, denn es ist nicht möglich, in der Schrift etwas zu hören, ohne zuvor etwas von ihr zu denken. Dass das Hören der Schrift wiederum geeignet sein kann, das Denken über sie zu beeinflussen und damit gleichsam a posteriori einem neuen Denken den Weg zu ebnen, ist natürlich auch richtig. Auch in diesem Fall ist es aber nicht unwichtig, was wir über die Schrift denken.“

Ich darf da mal autobiographisch argumentieren: Als ich das erste Mal die Bibel aufgeschlagen habe, um von Gott eine Antwort auf eine Frage zu bekommen, die mich umtrieb, hatte ich keine Ahnung, was ich von diesem Buch, in dem es um Gott ging, denken soll. Aber ich hatte gebetet, dass Gott mir die Antwort zeigt – und genau das hat er dann auch getan, Halleluja! Ich selber bin also genau der Fall, den Facius für unmöglich hält: Dass das Denken eben nicht zwangsläufig dem Gebrauch vorausgeht. Und ich glaube nicht, dass ich darin ein Einzelfall bin, weil – ebenfalls nach der lutherischen Orthodoxie – der heilige Geist es ist, der uns in unserem Inneren das Zeugnis gibt: Was du hier liest, das sagt Gott dir (sog. „testimonium spiritu sanctu internum“). Und hier haben die alten Lutheraner m.E. einen Punkt, denn dieses Zeugnis des Heiligen Geistes kann ein Mensch nicht erzeugen, nur bezeugen. Das aber ist selbstverständlich unsere Aufgabe; darin haben wir Konsens.

Entscheidend ist, was wir erwarten

Ich würde darum Facius‘ Satz etwas verändern: Ob wir die Schrift so lesen, dass wir Gottes Stimme in ihr hören, hängt davon ab, was wir von ihr erwarten – eben „Gottes Stimme in ihr zu hören“. Diese Erwartung kann, aber muss sich nicht in der Form eines verbalisierbaren Gedankens äußern, sondern sie kann sich auch auf der Ebene des Fühlens oder Wollens abspielen. Auf diesen Ebenen kann sie sogar das Denken unterlaufen. Und genau das ist die große Chance, und es passiert auch tatsächlich! Ich habe neulich erst die bewegende Geschichte von einem Pfarrer gehört, der durch die historisch-kritische Schule gegangen war und die Bibel als Zeugnis der Urchristenheit las. Es war während eines Gottesdienstes, als dieser Pfarrer auf der Kanzel stand und den Predigttext vorlas – langsam und mit Bedacht. Und während dieses Lesens geschah etwas in ihm: Er hörte das erste Mal persönlich die Stimme Gottes aus dem, was er las. Das überwältigte ihn derartig, dass er erst einmal von der Kanzel stieg und auf seinem Sitz Platz nahm. Der Organist, der dachte, ihm sein schwindlig geworden oder so etwas, füllte die Lücke mit ein oder zwei Chorälen. Und dann stieg der Pfarrer wieder auf der Kanzel und begann: „Wenn das stimmt, was da drinsteht, dann…“ und hielt seine erste Evangelisationspredigt – ohne Konzept, sein Manuskript war wertlos, er predigte und evangelisierte sich dabei selbst. Und als er von der Kanzel stieg, war er ein wahrer Nachfolger Jesu geworden – der Beginn einer großen Erweckung in seiner Gemeinde. Das sind die Wunder, die beim Lesen des Wortes Gottes geschehen und zeigen, dass die Bibel eine Lehre über sie nicht unbedingt als Voraussetzung braucht – wenn man sie hat ist es natürlich noch besser. Aber sie ist eben nicht auf unsere Lehre angewiesen, also von unserem Denken abhängig, sondern das Wort Gottes ist ein wirkmächtiges Wort, das uns gibt, was es sagt, indem wir es lesen.

Und das ist etwas, was mir Hoffnung gibt, der ich in der Landeskirche mit anderen Pfarrpersonen zusammenarbeite, die von der Bibel nicht das denken, was Daniel Facius und ich von ihr denken. Ich kenne etliche von ihnen, die mir aus Gewohnheit eine historisch-kritische Antwort geben würden, wenn ich sie fragen würde, was sie von der Bibel denken. Aber in der Praxis gelten für sie andere Regeln – da lesen sie sie trotzdem so, dass sie versuchen, Gottes Stimme in ihr zu hören. Diese Menschen hatte ich in der Passage S. 250 in Zusammenhang mit der „sog. zweiten Naivität“ vor Augen. Darin möchte ich sie stärken, dazu möchte ich sie einladen. Und wenn sie seine Stimme hören – die Stimme des Guten Hirten Joh 10 – dann kann auch das Denken hinterherkommen.

Recht hat Facius, wenn er sagt: Historisch-kritisches Denken kann bewirken, dass ein Mensch eben nicht mehr erwartet, Gottes Stimme in der Bibel zu hören. Es bildet Hürden, und es ist ein wesentliches Anliegen von mir in meinem Buch, Gedankentools bereitzustellen, um diese Hürden zu überwinden. Historisch-kritisches Denken kann aber auch ein Vorwand dafür sein, dass jemand in der Bibel Gottes Stimme gar nicht (oder nicht mehr) hören will. Denn diese Stimme fordert uns auch heraus und stellt uns manchmal in Frage. Sie ist liebevoll, aber nicht immer bequem. Die Historisch-kritische Methode ist m.E. vor allem eine Methode, um sie sich elegant vom Hals zu schaffen. Und das ist auch der tiefe Grund, warum eine Kirche, die ihr ihre Seele verschrieben hat, sich damit für ihr Sterben entschieden hat. Ich bete darum, dass wir in der Kirche aufs Neue den lebendigen Jesus Christus zu uns reden hören: „Werde wach und stärke das andere, das sterben will!“ (Offb. 3,2). Weil er uns ruft – auch heute! -, arbeite ich fröhlich und hoffnungsvoll als Pfarrer in der evangelischen Landeskirche.

[1] Der lutherisch-orthodoxe Theologen Johann Gerhardt (1582-1637) sti ein Beispiel, wenn er am Anfang seiner Dogmatik formuliert: „Die Heilige Schrift ist das Wort Gottes“ (lat. „scriptura sacra est verbum Dei“) Johann Gerhardt: Loci theologici. Ed. Preuss, Bd. 1, Berlin: Schlawitz, 1863, S. 240, § 539,

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