Die Stimme von Vengeance Rising, der Skater von Hollywood, der Pastor, der laute Atheist, der Rebell und der Mensch dahinter
Wenn man über die Pioniere des christlichen Thrash Metal spricht, fällt unweigerlich der Name Roger Martinez. Als Sänger und Frontmann von Vengeance Rising schrieb er Musikgeschichte. Er war laut, kompromisslos und zutiefst polarisierend. Doch wer war dieser Mann wirklich? Was trieb ihn an – in seiner Radikalität, seiner Predigt, seiner späteren Abkehr vom Glauben?
Wer meinen Blog liest, wird schon lange wissen, dass mich persönliche Geschichten von Zweifeln und Glaubensdekonstruktion interessieren. Als nun Ende Juni 2025 sein Tod bekannt wurde, da wurde mir klar: Wenn wir je versuchen wollten, sein Leben wirklich zu verstehen, dann jetzt.
Die Suche nach Rogers Wurzeln
Eines wurde schnell deutlich: Über das frühe Leben von Roger Martinez ist nur sehr wenig dokumentiert. Offizielle Biografien gibt es nicht, Wikipedia-Artikel sind lückenhaft oder gar nicht vorhanden, und selbst Zeitzeugen bleiben oft vage.
Ich schrieb unter anderem Pastor Bob Beeman, Mitbegründer der Sanctuary-Bewegung an. Diese Bewegung war seit den 80er-Jahren eine sehr wertvolle Ergänzung zu den vielen anderen Gemeindebewegungen. Als sich immer mehr Menschen aus der Rock- und Metal-Szene dem christlichen Glauben anschlossen, standen sie selten vor offenen Türen: Ihre Haare zu lang, die Sprache zu radikal, die Musik zu laut. Bob Beeman sah dieses Problem und seine Antwort war Sanctuary: Ein Rückzugsort für Metaller, die Jesus radikal nachfolgen möchten. Er war einer, der Roger Martinez unterstützte und ein Katalysator bei der Bandgründung von Vengeance Rising. Seine Antwort auf mein eMail mit Fragen zu Martinez’ Frühzeit war freundlich, aber ernüchternd: Bob sei viele Jahre mit Roger befreundet gewesen, wisse aber sehr wenig über die Zeit vor Sanctuary.
Die Jahre vor Vengeance Rising – die Kindheit, die Familie, die geistliche Prägung – bleiben ein Schleier. Ausnahmen liefern nur persönliche Erzählungen, etwa von George Ochoa, einem langjährigen Freund Rogers, der ihn bereits aus der Junior High kannte. Genau deshalb ist das kürzlich transkribierte Gespräch zwischen ihm, Jimmy Brown (Deliverance) und Larry Farkas (Vengeance) so wertvoll. Bitte schaut es euch online (Link hier) an. Mein (Whisper-)Transkript davon kann ich auf Wunsch auch weitergeben. George Ochoa ist übrigens zur Zeit wieder bei Deliverance aktiv (seit 2014 reunited) und war eine Zeit lang bei Mortification dabei.
George Ochoa über Roger: Freund, Bekehrter, Prediger, Frontmann
George Ochoa erzählt im Talk eindrucksvoll, wie tief seine Verbindung zu Roger reichte – von wilden Skatetagen in Hollywood bis hin zur eigenen Bekehrung durch Roger. Beide kannten sich seit der Schulzeit, fuhren gemeinsam durch die Pools von Orange County, lebten das Leben der 70er: Party, Musik, Perspektivlosigkeit.
„Roger came from a rough upbringing. His mom was kind of rough edged… not very stable.“
Als George Roger Jahre später zufällig wieder traf – es war auf dem Bürgersteig vor einer Klinik in Hollywood –, hatte sich alles verändert:
„Man, dude, I came to serve Jesus.“
Für George, der selbst aus dem katholischen Milieu kam, war das ein Schock – aber auch ein entscheidender Moment. Roger nahm ihn mit in eine Bibelstunde. Das Erlebnis veränderte Georges Leben. Er bekannte seinen Glauben – und kurz darauf gründeten beide ihre erste christliche Metalband: Prophet.
Vom Skatepark zur Kanzel – und dann auf die Bühne
Bevor Roger Martinez mit seiner Musikerkarriere begann, war er eine Weile Pastor – ebenso in einer Foursquare Pfingstgemeinde wie jene, in welcher er – vermutlich in Hollywood selbst – zum Glauben fand. Leider fehlen mir da die Informationen. Falls jemand mehr weiß, bitte immer her damit! Roger war nie als Sänger geplant. Er war Gitarrist, leidenschaftlich, aber autodidaktisch. Doch mit der Zeit wurde klar: Er war die treibende Kraft. Seine Stimme, seine Präsenz, seine Predigten – das war einzigartig.
Als später Vengeance Rising entstand, war es diese explosive Mischung aus Glaube, Wut und biblischer Radikalität, die den Unterschied machte. Ochoa erinnert sich:
„Vengeance was a band of four guitar players and a drummer. Roger wasn’t a singer – but he had the balls to do it.“
Im Rückblick beschreibt George Roger als unaufhaltsam – selbst wenn er hinter der Bühne krank war, betete er, predigte, schrie sich ins Publikum hinein. Auch wenn die Wege sich trennten, blieb diese Zeit für George prägend.
Die Bühnenjahre – von Vengeance Rising bis zum Zerfall
Wenn man Roger Martinez in den späten 1980ern live sah, war man entweder fasziniert, verängstigt oder bekehrt – dazwischen war wenig Platz. Er stand nicht einfach auf einer Bühne: er verkündigte, konfrontierte, predigte und schrie sich durch Sets wie ein besessener Prophet zwischen Metalriff und Bibelvers.
Die ersten beiden Alben von Vengeance Rising – Human Sacrifice (1988) und Once Dead (1990) – gelten heute als Meilensteine des christlichen Thrash Metals. Textlich voller Bibelzitate, Gewaltvisionen, Kreuzestheologie. Musikalisch brutal, technisch versiert – mit Roger im Zentrum als Frontmann und geistlichem Zugpferd.
„There was a point behind it, ultimately. The lyrics that Roger was able to put together are more hardcore than most anybody’s ever gonna be able to do.“
– Larry Farkas
Im Rückblick sagen seine früheren Bandkollegen fast unisono: Es war seine Kombination aus geistlicher Inbrunst, furchtloser Präsenz und kreativem Wahnsinn, die die Band ausmachte. Dabei war Roger – objektiv betrachtet – kein ausgebildeter Sänger. Aber seine Stimme war das ideale Vehikel für seine Botschaft: roh, durchdringend, fordernd.
Ein Mann übernimmt die Bühne – und die Kontrolle
Mit dem wachsenden Erfolg kamen jedoch Spannungen auf. Die Band war nie „demokratisch“ strukturiert – spätestens ab dem dritten Album Destruction Comes (1991) war Vengeance Rising eine Ein-Mann-Mission. Roger entschied, designte, dominierte.
George Ochoa, der Roger später bei der Released Upon the Earth-Tour (1992) als Live-Gitarrist unterstützte, beschreibt es nüchtern:
„It turned into Roger Rising. I was just a hired gun… it was Roger’s show now.“
Roger bestand darauf, TV-Monitore mit Exorzist-Szenen auf der Bühne zu installieren. Er sprach unaufhörlich über Dämonen, okkulte Symbolik, Höllenvisionen – nicht aus Provokation, sondern aus Überzeugung. Manches Publikum war fasziniert, manches verstört. Seine Frau Ruby musste mehrmals aus dem Schlafzimmer kommen, weil Roger mit Freunden lautstark bis spät nachts Nintendo-Monopoly-Turniere spielte – mit missionarischer Inbrunst.
Die Implosion – Schulden, Streit, Isolation
Die Band zerbrach, doch nicht an fehlendem Erfolg, sondern an innerem Druck. Roger trennte sich von der Originalbesetzung (Farkas, Dale, Del Mar, Mancaruso) – teils wegen theologischer Differenzen, teils wegen persönlicher Konflikte, teils wegen Finanzstreitigkeiten. Es ging um rund 30.000 Dollar Schulden (entspricht heute etwa 65.000 €) – deren genaue Ursache bis heute umstritten ist. Als Roger von einer Australienreise zurück kam, wurde er von den übrigen Bandmitglieder vor vollendete Tatsachen gestellt: Alle (außer Roger) wollten die Band auflösen und so die Schulden loswerden. Roger fühlte sich den Gläubigern verpflichtet und übernahm den Bandnamen und die Schulden privat.
„Roger never forgave Glenn and Roger Dale. He despised them.“
– Jimmy Brown
Die übrigen Mitglieder gründeten später Once Dead (eine Art Weiterführung ohne Martinez). Roger hingegen veröffentlichte 1992 noch das Album Released Upon the Earth mit komplett neuer Besetzung – weniger gefeiert, aber bis heute umstritten und kultisch verehrt.
Doch danach wurde es still um ihn. Die Energie wich der Verbitterung. Interviews wurden seltener, der Ton aggressiver.
Die Dekonstruktion des Glaubens oder: Von der Kreuzeslehre zur Kreuzesleere
In den späten 1990er-Jahren vollzog sich bei Roger Martinez ein bemerkenswerter – und für viele schockierender – Wandel. Der Mann, der einst auf Bühnen gegen Dämonen predigte und Bibelverse ins Mikro brüllte, begann öffentlich am Fundament seines Glaubens zu rütteln. Und zwar nicht leise, tastend oder zweifelnd, sondern frontal, analytisch und mit wachsender Schärfe.
Roger veröffentlichte mehrere Texte online, darunter ein längeres Manifest mit dem Titel “The Tyranny of God”. In diesen Schriften nannte er die Bibel „ein Machwerk von menschlicher Manipulation“, warf der christlichen Lehre systematische Verdummung vor und bezeichnete Prediger, Kirchen und insbesondere evangelikale Strukturen als kontrollierende Systeme, die Menschen psychologisch brechen würden.
„Ich war ein Werkzeug. Ich habe Menschen in Angst versetzt, ich habe manipuliert – weil ich selbst manipuliert wurde.“
Diese Aussagen trafen viele seiner alten Weggefährten hart. Nicht, weil Roger zweifelte – sondern weil er alles, wofür Vengeance Rising einmal gestanden hatte, nun als Lüge, Selbstbetrug und spirituellen Missbrauch bezeichnete. Während einige seiner alten Fans und Kollegen hofften, es handele sich um eine Phase, zeigte sich schnell: Dies war kein Moment des Zweifelns. Es war eine bewusste Abkehr.
Roger nannte sich nun „scientific materialist“, warf christlichen Musikern Heuchelei vor und legte sich in Foren und Texten regelmäßig mit seinem früheren Publikum an. Der Mann, der einst auf der Bühne mit Tränen in den Augen vom Kreuz gepredigt hatte, verachtete jetzt genau diesen Moment als emotionale Indoktrination.
Jimmy Brown, der selbst viele Jahre mit Roger verbunden war, sagte rückblickend:
„Roger Martinez was not a normal person in any way, shape or form.“
Das war nicht wertend gemeint – sondern als Versuch, zu erklären, wie tief, extrem und existenziell Roger dachte, fühlte und lebte. Er war kein Mann der Mittelwege. Entweder 100 % Christus – oder 100 % Konfrontation.
Isolation, Verbitterung, Krankheit
Je mehr Roger sich öffentlich von der christlichen Szene abwandte, desto stärker zog er sich auch privat zurück. Freunde berichten, dass Gespräche mit ihm schwieriger wurden – selbst gut gemeinte Kontakte, Angebote zur Versöhnung oder zum Gespräch wurden abgeblockt oder abgewiesen.
„Every time I talked to him in the last three years, it was: ‘My doctor’s doing this, my doctor’s doing that’ – but never any details.“
– Jimmy Brown
Roger sprach zwar mit engen Freunden über gesundheitliche Probleme – darunter wohl eine Krebserkrankung – aber er blieb vage, weigerte sich, Therapieoptionen zu diskutieren. Selbst als Larry Farkas ihm über persönliche Kontakte Zugang zu einer alternativen Klinik in Arizona ermöglichen wollte, lehnte Roger das ab; er misstraute allen Autoritäten.
Einige vermuten, dass seine Erfahrungen mit der Kirche, mit Spiritualität und Kontrolle ihn letztlich auch in medizinischen Fragen lähmten. Er war ein Mann, der sich nicht mehr fremdbestimmen lassen wollte, egal von wem.
Am Ende blieb ein Mensch zurück, der einst mit grenzenlosem Eifer predigte – und später mit gleicher Vehemenz gegen jene Botschaft kämpfte. Ein Mann mit Widersprüchen, mit Brüchen – aber auch mit Mut, seinem Weg konsequent zu folgen, egal wie einsam er wurde.
Roger Martinez war vieles: Musiker, Prediger, Rebell, Provokateur. Aber vor allem war er ein Mensch auf der Suche – radikal, ehrlich und oft allein. Seine Geschichte ist keine Heldensaga, keine Tragödie, keine Bekehrungsgeschichte in Umkehrung. Sie ist ein menschliches Ringen. Mit Gott, mit sich selbst, mit der Wahrheit.
Er war kein einfacher Mensch, und sein späteres Auftreten war für viele verletzend. Aber wer genau hinhört, erkennt hinter der Wut die gleiche Sehnsucht, die ihn einst zum Kreuz geführt hatte: die Sehnsucht nach Sinn, nach Aufrichtigkeit, nach etwas, das echt ist.
Wenn du das hier liest und selbst am Zweifeln bist – vielleicht, weil du nicht mehr glaubst wie früher, oder weil du noch nie glauben konntest, was dir andere vorgaben – dann nimm dir eines mit:
Du bist nicht allein.
Zweifel sind kein Defekt. Sie sind kein Zeichen von Versagen, sondern oft der Anfang von etwas Ehrlicherem. Es ist kein Verrat, wenn man Fragen stellt. Und es ist keine Schuld, wenn sich Antworten nicht sofort finden. Ob du bleibst oder gehst, glaubst oder suchst, schreist oder schweigst – du darfst das. Und du darfst dir Menschen suchen, die dir zuhören, ohne zu richten.
Roger Martinez hat diese Art von Raum, diese Art von Begleitung, vielleicht nie wirklich gefunden. Vielleicht hat er sie auch irgendwann nicht mehr zugelassen. Aber wir – du und ich – können es besser machen. Für uns, füreinander. Und für die vielen anderen, die wie er auf einem unsichtbaren Grat zwischen Glauben und Verlust balancieren.
Möge sein Weg – in all seiner Härte – uns daran erinnern, wie wichtig es ist, Menschen zu sehen, bevor sie verschwinden.
Der Beitrag Auf den Spuren von Roger Martinez erschien zuerst auf Jonas Erne.
Dieser Blog-Beitrag von Jonas Erne erschien zuerst auf Jonas Erne - Der Blog . Lies hier den Original-Artikel "Auf den Spuren von Roger Martinez".