„Wie man beten soll, für Meister Peter Barbier“ ist ein Klassiker der Reformationszeit. Die Geschichte des Barbiers, der unbedingt beten lernen möchte, und mit seiner Bitte an niemand anderen heran tritt als an Martin Luther, ist derart populär, dass es selbst Kinderbuch-Varianten davon gibt (R.C. Sproul: Der Friseur, der das Beten lernen wollte). Ich habe wiederholt auf diese Begebenheit Bezug genommen: Die Einfachheit des Werkes ist faszinierend, so wie die Tatsache, dass Luther auf den Wunsch eines Friseurs hin, ein Buch schreibt. Eine protestantische Idylle darüber, wie alle Menschen unter dem Evangelium zu Brüdern werden… Aber leider ist, diese Idylle nicht die ganze Wahrheit: Meister Peter, genauer Peter Beskendorf, war dieser Friseur, dem die Schrift zu Beginn des Jahres 1535 gewidmet wurde. Doch nur wenige Wochen später kam es zu einer furchtbaren Katastrophe: In der Osternacht 1535 erstach er im Rausch seinen Schwiegersohn Dietrich. Er wurde zwar im Sommer begnadigt, ab er des Landes verwiesen. (Quelle: K. Bornkamm, Martin Luther Werke II, S. 268).
Natürlich trägt Luther keine Verantwortung für das Verhalten seines Barbiers. Doch ich finde die Geschichte von Peter Beskendorf ist ein gutes Beispiel, wie nah Segen und Horror in der Reformationszeit beieinander liegen. Und das sage ich nicht als Skeptiker an der Reformation. Einer meiner Söhne heißt gar Martin Luther mit Vornamen. Dennoch empfinde ich gerade bei Luther diese Symbiose aus Horror und Segen besonders erdrückend. Da ist auf der einen Seite sein Mut vor Kaisern und Mächtigen den evangelischen Glauben zu bekennen, und dann sein Starrkopf, mit dem er über die Frage nach dem Abendmahl, einen Riss in den jungen evangelischen Kirchen akzeptiert (der ja bis heute zu spüren ist). Hand aufs Herz: Wie oft haben wir die Diskussionen über Taufe und Abendmahl gerade deswegen mit einer tiefen Ernsthaftigkeit geführt, weil es eben Luther tat! (Mir auf jeden Fall, sind schon eine ganze Menge solcher Zeitgenossen begegnet). Doch auch unsere härtesten Debatten kosten uns heute kaum das Leben. Luthers Beharrlichkeit an der „Realpräsenz in den Elementen“ war anders ansteckend: Als die Protestanten Englands in Schiffen von der blutigen Verfolgung im wieder katholisch gewordenen England flohen und in Hamburg Zuflucht suchten, wurden sie wieder aufs Meer zurückgeschickt, weil sie nicht an die Realpräsenz in den Elementen glaubten. (Quelle: B.Peters: 2 Petrus, S. 25)
Später finden wir Luthers wunderbare Schriften über Ehe und Familie, die auf einen Schlag jahrhundertelange katholische Verachtung des „ungeistlich-alltäglichen“ beseitigten und dann doch die gleichgültige Haltung gegenüber Landgraf Philipps I. Hurerei. Es ist schockierend, dass Menschen die so viel von Gottes Erbarmen verstanden, dieses mutig verkündigten, dafür bereit waren zu leiden, dennoch derart erbarmungslos gegenüber ihren Nächsten blieben. Dass sich Luthers Antisemitismus wesentlich vom Antisemitismus des dritten Reiches unterschied, darf uns nicht über den nicht nachvollziehbaren Hass gegenüber Juden und Wiedertäufern hinwegtäuschen.
Bei den Wiedertäufern wären wir nun ja auch bei mir: Sind sie die „Guten“ der Reformationszeit? Weit verbreitet ist die Erzählung über den Täufer Dirk Willems, der auf der Flucht um sein Leben umkehrt, um einen untergehenden Verfolger aus dem Wasser zu retten. Diese Rettung soll ihn schließlich zur Verbrennung führen (Quelle: Wiki). Diese Begebenheit hielt selbst in der Kunst Einzug (siehe Titelbild). Die unterschiedlichen Täuferbewegungen waren im Wesentlichen Opfer eines furchtbaren Systems, dass trotz Reformation nicht zwischen Staat und Kirche unterscheiden konnte. Man fragt sich, was das ganze Gerede von den unterschiedlichen „Instanzen“ à la Staat und Kirche denn wirklich gebracht hat, wenn man seinem Nächsten nicht die Gewissensfreiheit ließ eben nicht katholisch oder lutherisch oder reformiert zu sein. Dennoch fühlt man nicht nur Behaglichkeit, wenn man an die unterschiedlichen Täufergruppen denkt. Dass man Kirche und Staat trennt, führt bei Gruppen die gleichzeitig in intensiver Gemeinschaft (bis hin zur Gütergemeinschaft leben), dass der Pfarrer, Älteste oder (im besten Fall) Ältestenrat zu König, Herrscher, Priester und Prophet wird. Bitter, dass die entschiedene Ablehnung des Papsttums zu einer solchen „Papstifizierung“ führt. Im Übrigen etwas, das bis heute in radikalen evangelikalen Gemeinden wiederholt und weltweit zu beobachten ist. Und nicht nur das: Dass man die Gemeinde Christi mit einer kleinen Ortsgemeinde gleichsetzt dürfte ein weiterer grober Schnitzer sein, der auch wieder so seltsam römisch-katholisch riecht. Die unerwartete Ähnlichkeit von fundamentalistischen Protestanten mit dem Katholizismus ist manchmal schlicht beängstigend.
Bis heute akzeptieren wir aber ein deutliches Faul der Unfairness gegenüber den Täufern. Erst vor kurzem hörte ich einen „presbyterianischen Pastor“ (Die Gänsefüßchen verstehen sich an dieser Stelle nicht als das in Frage stellen des Presbyterianismus als des Selbstanspruchs dieses Pastors) der darüber sprach, dass es ja keine bekannten baptistischen Reformatoren, Werke, Universitäten und Kirchen gebe. Dabei ist doch die andere Frage die Offensichtlichere: Wie hätte so ein baptistischer Reformator, denn bekannt werden können, ohne am Galgen zu enden? Wie hätte den ein Täufer oder Mennonit studieren können und eine gründliche Dogmatik verfassen können?
Also doch „katholisch“ bleiben? Heute bin ich ein „Fanboy“ der Reformationszeit, doch ich glaube als ein Mensch dieser Zeit, wäre ich wohl lieber katholisch geblieben. „Protestant“ klingt nicht umsonst nach Protest. Nach Wandel, Unruhe, Irrungen und Wirrungen. Warum nicht in der Kirche mit den gewohnten Ordnungen bleiben? Ich fände und finde das sehr verlockend! Erst durch MacCullochs hervorragendes Werk „Die Reformation“ ist mir klar geworden, dass die Reformation erst 200 Jahre nach Luthers Thesenanschlag konsolidiert war. Die Blüte des Protestantismus waren die großen evangelikalen Missionseinsätze, die nun in den überall neu entdeckten Gebieten erfolgten. Doch wer erfuhr 1500 -1700 den größten Wachstum? Natürlich die katholische Kirche, denn für ein paar Gebiete, die man im Norden „an die Ketzer“ verlor, eroberte man einen ganzen Kontinent in Südamerika. Aber natürlich können auch die Katholiken nicht „die Guten“ in dieser Geschichte bleiben. Obwohl ich eingestehe, dass wir als Evangelische den Katholiken zu schnell die „schwarze Krone“ aufsetzen, kann niemand über die dubiosen Methoden der Jesuiten hinwegsehen, die als Maßnahme einer „Gegenreformation“ allen päpstlichen Segen bekamen. AUnd wenn es offensichtlich Jahrhunderte dauern kann, bis etwas die endgültigen Früchte zeigt, bleibe die Frage, ob der gegenwärtige jesuitische Papst nicht eine solche Frucht ist. ls Katholik würde man wohl einwenden (könnte ich mir vorstellen), dass unser protestantisches „Sola Scriptura“ uns wiederum bloß Rationalismus und Bibelkritik eingebracht hat. Was wohl darauf hindeutet, dass es töricht ist, unser alltägliches Verhalten heute mit Entwicklungen von vielen Jahrhunderten zu erklären.
Dass die Gegenreformation der katholischen Kirche kaum Menschen zufriedenstellen kann, die einen gnädigen Gott und eine evangelische Gemeinde suchen, ist allzu offensichtlich. Doch zu diesem Preis? Diesen Preis, unterstreicht jede neu recherchierte Nuance der Reformationszeit aufs Neue: Der Preis war nicht nur Verfolgung und Ablehnung. Nicht nur das Label „Ketzer“ oder „Abtrünniger“ oder „Papist“. Nicht nur Staatenlosigkeit und Furcht. Nein, ich finde der schauerlichste Preis ist, dass auch das eigene Lager, so hehr das angestrebte Ziel, so wertvoll die verfolgte Wahrheit, nur aus furchtbaren Sündern besteht. Das ist ein wahrlich hoher Preis.
Wer sind also die Guten, die Schlechten und die Hässlichen der Reformationszeit? Letztlich sind alle schlecht und hässlich und werden nur aus Gnaden gerecht. “Hätte uns der HERR Zebaoth nicht einen geringen Rest übrig gelassen, so wären wir wie Sodom und gleich wie Gomorra.” (Jesaja 1,9) Das wiederum macht deutlich, dass die Wahrheit, Wahrheit an sich ist, nicht weil wir alle so feine Menschen ist. Und das wiederum lässt uns mit der Frage zurück, welchen Preis wir bereit sind zu zahlen, um die Wahrheit zu ergreifen?
Danke, Sergej, für diesen Artikel.
Paulus hat es in Röm 7, 17 – 19 hat es ja angedeutet, und es ist ein wiederkehrendes Muster beim Menschen bis heute: das Richtige und Gute tun wollen, aber das Schlechte und Böse, was dabei als Nebeneffekt entsteht oder entstehen kann, nicht sehen können oder wollen.
Mißstände meint man schnell beseitigt zu haben, und eh dass man sich versieht hat man an anderer Stelle neue Mißstände und Ungerechtigkeiten geschaffen.
Das Schlimmste aber ist m.E., wenn man die negativen Folgen des vermeintlich guten Werkes nicht sehen möchte, und den Boten, der einem die Augen öffnen könnte, zurückweist, oder gar schädigt.
Nun könnte man sich an Thomas von Aquin halten, der wohl aus Röm 14 abgeleitet hat: „Alles, was gegen den Glauben oder das Gewissen geschieht, ist Sünde“ und den Umkehrschluss ziehen, dass die negativen Konsequenzen eines vermeintlich guten Handelns nicht das Gewissen belasten, weil unterm Strich doch das Gute aus der Tat überwiegt und daher das Gewissen nicht belastet.
Aber dann sollte der Mensch, der Christus nachfolgen möchte, erst recht erkennen, dass er gar nicht gerecht sein kann, keine Gerechtigkeit schaffen kann, und von daher auf Jesus als Fürsprecher und Erlöser angewiesen ist.
Und ich denke, dass Luther durchaus wußte, dass er Jesus braucht.
Wir können Luther viele Dinge ankreiden, aber dann passt wohl der Spruch vom Glashaus und Steine werfen.
Das Problem ist nicht, daß der Christ Fehler macht und sündigt, sondern, daß er oft stur darin verharrt. Christen werden da und dort auch korrigiert und zurecht gewiesen, auch auf freundliche Art, aber sie wollen sich oft nicht ändern. Sehen nichts ein.
Beispiele dafür gibt es genug. Einer, der eine grosse Gemeinde gründete, wollte immer noch grösser werden, musste aber schliesslich Mitarbeiter entlassen und kleinere Brötchen backen. Gerne wollte er auch in die Taschen anderer greifen, um seine großen Pläne erfüllen zu können.
Dann hat er neben seiner Frau noch andere Frauen gehabt. Am Ende ist das publik geworden. Manchmal fragt man sich ob diese Hochgestellten und Vielgerühmten, die aber durchaus auch versagen können, einen guten Seelsorger haben oder ob der blind ist, wenn sie einen haben sollten.
Das Problem ist leider auch, dass wenn jemand sich auf irgendeine Art gewisse Verdienste erworben hat, dass viele diesen Menschen zu sehr hochheben und jede Kritik an dessen Verhalten abblocken, oft sogar auch mit Bibelsprüchen. Sagt man was, wenn noch so berechtigt, wird man angegriffen. Rührt ja den Heiligen nicht an usw. Aber Gott macht schliesslich die Rechnung und nicht die Menschen.