Meine »erste Leiche« hat mich besonders mitgenommen. Noch eine halbe Stunde zuvor stand ich an ihrem Bett und half der Krankenschwester beim Umbetten des Studienrates – und jetzt in der Mittagspause war sein Körper leer…
In den ersten Wochen als Zivildienstleistender in einem Altenheim hat mich die Auseinandersetzung mit dem Tod (der in solcher Einrichtung regelmäßig zu Besuch ist) stark herausgefordert; und das nicht nur, weil wir Zivis im Keller neben der Leichenkammer schliefen – ich erinnere mich noch gut an mein erstes, von Sinnfragen triefendes, Gedicht, dass ich zu Ehren des alten Herrn geschrieben hatte.
Zeitgleich fiel mir ein Zitat des Philosophen Kierkegaard in die Hände, welches die Stimmung gut zusammenfasste: »Man lebt nur einmal. Ist, wenn der Tod kommt, dein Leben wohl genutzt, das heißt so genutzt, dass es sich richtig zur Ewigkeit verhält? Ist es das nicht, so ist es ewig nicht wieder gut zu machen – man lebt nur einmal.« Was macht das Leben sinnvoll? Welches Lebenskonzept hat eine tragfähige Antwort auf den Tod?
Zwei Jahre zuvor war ich Christ geworden. Seitdem übte die Bibel und ihr Lebenskonzept eine große Anziehungskraft auf mich aus, die ich vorher nicht kannte (obwohl ich schon immer in einer christlichen Familie aufgewachsen war). Früher empfand ich Ihre Aussagen vor allem als Verbote und Einschränkungen auf dem Weg der Selbstverwirklichung. Andererseits hielt ich ihre Inhalte für wahr: auf christlichen Jungenfreizeiten versuchte ich regelmäßig einen religiösen Neuanfang und kam mit Büchern zur Bibel bepackt nach Hause, nur um nach einer Woche wieder in die alte Spur als Klassenclown abzurutschen. Ich weiß noch, wie ich, im verzweifeltem Kampf ihren Maßstäben, z.B. im Bereich sexueller Gedankensünden, nachzukommen, das Heilige Buch wutentbrannt gegen die Zimmerwand schleuderte.
Als junge Erwachsene versuchten meine Schwester und ich, zusammen mit einer Clique entwurzelter Jugendlicher aus frommen Haus, den »Tanz in zwei Welten«: Sonntags besuchten wir brav den Gottesdienst (und zwar morgens und nachmittags!). Wie die anderen Jugendlichen unserer Gruppe wahrscheinlich auch, hielt ich die zentralen Aussagen des Christentums für wahr: ich kann mich z.B. nicht erinnern jemals an der Existenz Gottes gezweifelt zu haben. Die göttliche Natur Christi, der übernatürliche Charakter der Bibel, die geschichtliche Wirklichkeit von Jesu stellvertretendem Tod, seine wirkliche Auferstehung und Himmelfahrt, ja sogar sein Wiederkommen und die biblische Lehre von Himmel und Hölle waren mir stets als »Tatsachen« bewusst – aber dieser »Glaube« im Sinne eines »Für-Wahr-Haltens« hatte keine Auswirkungen auf mein Leben.
Wie alle anderen auch versuchten wir, mit »Abhängen«, Moped frisieren (und Nachbarn nerven), ersten Annäherungsversuchen bei den Mädels und oft genug gefährlichem Unsinn die Zeit totzuschlagen. Der Frust stieg in dem Maße, wie unsere Treffen ritualisiert wurden: ein Thema (das eigentlich keinen interessierte) kam zufällig auf und wurde von zwei Kontrahenten drei Stunden lang zerredet, während die anderen als stumme Ohr- und Augenzeugen ihre Biergläser festhielten. – Dann war auch dieses Wochen-ende rum…
Nach einem weiteren entnervenden Wochenende fuhren meine Schwester und ich durch die Winternacht des kalten Westerwaldes in ihrer zugigen »Ente« nach Hause. Auf der B 54, kurz vor dem Abbiegen ins »fromme Siegerland«, setzte sie mit den Worten »es muss bald eine Entscheidung geben: rechts oder links!« die Weggabelung. Es war klar worum es ging: entweder Jesus konsequent nachfolgen, oder die fromme Show bewusst ablegen. Iris versuchte (für mehrere Jahre) die zuletzt genannte Möglichkeit umzusetzen – ihre Entscheidung markierte sie mit einem klassischen »Ausbruch« aus der bürgerlichen Welt unserer Familie: nach zwei oder drei Monaten meldete sie sich telefonisch aus Südfrankreich, wohin sie sich mit ihrem Freund abgesetzt hatte.
In dieser Situation, als klar war dass sie uns verlassen hatte, traf ich die entgegengesetzte Entscheidung: ich ging auf die Toilette – der einzige Raum in unserem Haus mit einem Schlüssel – und bat Gott im Gespräch (Gebet) mein Leben zu übernehmen. Im Gegensatz zu anderen »Göttern« kommt er nur per Einladung! Mehr als einmal hatte ich bereits als Vorschulkind »Jesus in mein Leben gebeten«, diesmal ging es nicht mehr nur darum ein »Ticket für den Himmel« zu lösen, sondern Jesus als Herrn des Lebens aufzunehmen. Ich hatte nicht nur die Langeweile und Sinnlosigkeit meines Lebens satt, sondern war mir auch sehr deutlich der Schuld bewusst, die sich mit kleineren und größeren Vergehen gegen Gottes Willen (Sünden) angesammelt hatte, und die mich von einer Beziehung zu Gott trennte.
Sehr bewusst setzte mein Vertrauen auf Gottes Liebe und Vergebungsbereitschaft, wie sie in der Bibel versprochen wird: »Gott hat die Menschen so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie hergab. Jeder, der an IHN glaubt, wird nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben« (Evangelium des Johannes, Kapitel 3, Vers 16). Als ich Jesu Tod am Kreuz, als Strafe für mein verfehltes Leben, in Anspruch nahm, hatte ich zum ersten Mal »Glauben« ausgeübt, der nicht nur im »für-wahr-halten« von geschichtlichen Informationen bestand, sondern die persönliche Beziehung zu einer heute noch lebenden Person meinte.
Seit dem sind fast 25 Jahre vergangen. Besonders am Anfang des Lebens mit Jesus galt es manche »Leichen aus dem Keller« meiner Vergangenheit zu entfernen. »Es-tut-mir-Leid«-Briefe wurden geschrieben, und geklaute Sachen zurückgebracht. Gott hat mir dazu oft Jahre Zeit gelassen. Plötzlich sah ich, dass es andere gibt, denen es mindestens so schlecht ging wie mir: überall war (und ist) »der Tod im Topf« (nicht nur im Altenheim). Im Bemühen um die Jugendlichen unserer Gemeinde wurde auch mir geholfen; langsam kam es zur positiven Veränderung alter Gewohnheiten. Wie erlösend endlich nicht mehr auf sich fixiert sein zu müssen!
Das brach liegende Bibelwissen entpuppte sich als fruchtbares Kapital. Trotz mancher Extreme, die ich im Gemeindeleben meiner Jugend kennen gelernt habe, bin ich für das Fundament, das mir ihr schlichter »Biblizismus« bis heute gegeben hat, unendlich dankbar. Goethes »Was du ererbet von den Vätern hast, erwirb es um es zu besitzen« wurde mir in der Beschäftigung mit dem Glauben meiner Väter zu einer persönlichen Wirklichkeit. Auch wenn ich heute kleinere Details anders sehen als frühere Generationen, ist ihr und unser Evangelium die gleiche Botschaft, die Jesus und Paulus predigten, und die damals wie heute »Kraft hat zur Errettung« (Römerbrief, Kapitel 1, Vers 16).
Mit dem Lebendigwerden der Bibel wurde auch die Frage nach dem Tod – und damit nach dem Sinn des Lebens – beantwortet. Wenn ich um einen Platz im Himmel weiß, dann nicht, weil ich etwas geleistet hätte. Der einzige Grund liegt in Gottes Eingreifen und seiner unverdienten »Gutheit« uns Menschen gegenüber. »Nachfolge Christi« ist die einzig sinnvolle Antwort auf die Liebe Gottes – und nebenbei auch noch sehr befriedigend …
Im Sommer 1985 lies ich mich von einem bayrischen Schwaben in einem kleinen Weiher gemäß dem Befehl Jesu taufen. Zwei Jahre später schlug ich die Zelte in München auf, um hier mein Studium zu beenden, und in einer christlichen Gemeindearbeit mitzuhelfen. In der missionarischen Studentenarbeit dieser Gemeinde begegnete ich meiner späteren Frau – doch das ist eine andere Geschichte…
Uwe Brinkmann
Unterschleißheim, September 2005
Meine »erste Leiche« hat mich besonders mitgenommen. Noch eine halbe Stunde zuvor stand ich an ihrem Bett und half der Krankenschwester beim Umbetten des Studienrates – und jetzt in der Mittagspause war sein Körper leer…
In den ersten Wochen als Zivildienstleistender in einem Altenheim hat mich die Auseinandersetzung mit dem Tod (der in solcher Einrichtung regelmäßig zu Besuch ist) stark herausgefordert; und das nicht nur, weil wir Zivis im Keller neben der Leichenkammer schliefen – ich erinnere mich noch gut an mein erstes, von Sinnfragen triefendes, Gedicht, dass ich zu Ehren des alten Herrn geschrieben hatte.
Zeitgleich fiel mir ein Zitat des Philosophen Kierkegaard in die Hände, welches die Stimmung gut zusammenfasste: »Man lebt nur einmal. Ist, wenn der Tod kommt, dein Leben wohl genutzt, das heißt so genutzt, dass es sich richtig zur Ewigkeit verhält? Ist es das nicht, so ist es ewig nicht wieder gut zu machen – man lebt nur einmal.« Was macht das Leben sinnvoll? Welches Lebenskonzept hat eine tragfähige Antwort auf den Tod?
Zwei Jahre zuvor war ich Christ geworden. Seitdem übte die Bibel und ihr Lebenskonzept eine große Anziehungskraft auf mich aus, die ich vorher nicht kannte (obwohl ich schon immer in einer christlichen Familie aufgewachsen war). Früher empfand ich Ihre Aussagen vor allem als Verbote und Einschränkungen auf dem Weg der Selbstverwirklichung. Andererseits hielt ich ihre Inhalte für wahr: auf christlichen Jungenfreizeiten versuchte ich regelmäßig einen religiösen Neuanfang und kam mit Büchern zur Bibel bepackt nach Hause, nur um nach einer Woche wieder in die alte Spur als Klassenclown abzurutschen. Ich weiß noch, wie ich, im verzweifeltem Kampf ihren Maßstäben, z.B. im Bereich sexueller Gedankensünden, nachzukommen, das Heilige Buch wutentbrannt gegen die Zimmerwand schleuderte.
Als junge Erwachsene versuchten meine Schwester und ich, zusammen mit einer Clique entwurzelter Jugendlicher aus frommen Haus, den »Tanz in zwei Welten«: Sonntags besuchten wir brav den Gottesdienst (und zwar morgens und nachmittags!). Wie die anderen Jugendlichen unserer Gruppe wahrscheinlich auch, hielt ich die zentralen Aussagen des Christentums für wahr: ich kann mich z.B. nicht erinnern jemals an der Existenz Gottes gezweifelt zu haben. Die göttliche Natur Christi, der übernatürliche Charakter der Bibel, die geschichtliche Wirklichkeit von Jesu stellvertretendem Tod, seine wirkliche Auferstehung und Himmelfahrt, ja sogar sein Wiederkommen und die biblische Lehre von Himmel und Hölle waren mir stets als »Tatsachen« bewusst – aber dieser »Glaube« im Sinne eines »Für-Wahr-Haltens« hatte keine Auswirkungen auf mein Leben.
Wie alle anderen auch versuchten wir, mit »Abhängen«, Moped frisieren (und Nachbarn nerven), ersten Annäherungsversuchen bei den Mädels und oft genug gefährlichem Unsinn die Zeit totzuschlagen. Der Frust stieg in dem Maße, wie unsere Treffen ritualisiert wurden: ein Thema (das eigentlich keinen interessierte) kam zufällig auf und wurde von zwei Kontrahenten drei Stunden lang zerredet, während die anderen als stumme Ohr- und Augenzeugen ihre Biergläser festhielten. – Dann war auch dieses Wochen-ende rum…
Nach einem weiteren entnervenden Wochenende fuhren meine Schwester und ich durch die Winternacht des kalten Westerwaldes in ihrer zugigen »Ente« nach Hause. Auf der B 54, kurz vor dem Abbiegen ins »fromme Siegerland«, setzte sie mit den Worten »es muss bald eine Entscheidung geben: rechts oder links!« die Weggabelung. Es war klar worum es ging: entweder Jesus konsequent nachfolgen, oder die fromme Show bewusst ablegen. Iris versuchte (für mehrere Jahre) die zuletzt genannte Möglichkeit umzusetzen – ihre Entscheidung markierte sie mit einem klassischen »Ausbruch« aus der bürgerlichen Welt unserer Familie: nach zwei oder drei Monaten meldete sie sich telefonisch aus Südfrankreich, wohin sie sich mit ihrem Freund abgesetzt hatte.
In dieser Situation, als klar war dass sie uns verlassen hatte, traf ich die entgegengesetzte Entscheidung: ich ging auf die Toilette – der einzige Raum in unserem Haus mit einem Schlüssel – und bat Gott im Gespräch (Gebet) mein Leben zu übernehmen. Im Gegensatz zu anderen »Göttern« kommt er nur per Einladung! Mehr als einmal hatte ich bereits als Vorschulkind »Jesus in mein Leben gebeten«, diesmal ging es nicht mehr nur darum ein »Ticket für den Himmel« zu lösen, sondern Jesus als Herrn des Lebens aufzunehmen. Ich hatte nicht nur die Langeweile und Sinnlosigkeit meines Lebens satt, sondern war mir auch sehr deutlich der Schuld bewusst, die sich mit kleineren und größeren Vergehen gegen Gottes Willen (Sünden) angesammelt hatte, und die mich von einer Beziehung zu Gott trennte.
Sehr bewusst setzte mein Vertrauen auf Gottes Liebe und Vergebungsbereitschaft, wie sie in der Bibel versprochen wird: »Gott hat die Menschen so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie hergab. Jeder, der an IHN glaubt, wird nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben« (Evangelium des Johannes, Kapitel 3, Vers 16). Als ich Jesu Tod am Kreuz, als Strafe für mein verfehltes Leben, in Anspruch nahm, hatte ich zum ersten Mal »Glauben« ausgeübt, der nicht nur im »für-wahr-halten« von geschichtlichen Informationen bestand, sondern die persönliche Beziehung zu einer heute noch lebenden Person meinte.
Seit dem sind fast 25 Jahre vergangen. Besonders am Anfang des Lebens mit Jesus galt es manche »Leichen aus dem Keller« meiner Vergangenheit zu entfernen. »Es-tut-mir-Leid«-Briefe wurden geschrieben, und geklaute Sachen zurückgebracht. Gott hat mir dazu oft Jahre Zeit gelassen. Plötzlich sah ich, dass es andere gibt, denen es mindestens so schlecht ging wie mir: überall war (und ist) »der Tod im Topf« (nicht nur im Altenheim). Im Bemühen um die Jugendlichen unserer Gemeinde wurde auch mir geholfen; langsam kam es zur positiven Veränderung alter Gewohnheiten. Wie erlösend endlich nicht mehr auf sich fixiert sein zu müssen!
Das brach liegende Bibelwissen entpuppte sich als fruchtbares Kapital. Trotz mancher Extreme, die ich im Gemeindeleben meiner Jugend kennen gelernt habe, bin ich für das Fundament, das mir ihr schlichter »Biblizismus« bis heute gegeben hat, unendlich dankbar. Goethes »Was du ererbet von den Vätern hast, erwirb es um es zu besitzen« wurde mir in der Beschäftigung mit dem Glauben meiner Väter zu einer persönlichen Wirklichkeit. Auch wenn ich heute kleinere Details anders sehen als frühere Generationen, ist ihr und unser Evangelium die gleiche Botschaft, die Jesus und Paulus predigten, und die damals wie heute »Kraft hat zur Errettung« (Römerbrief, Kapitel 1, Vers 16).
Mit dem Lebendigwerden der Bibel wurde auch die Frage nach dem Tod – und damit nach dem Sinn des Lebens – beantwortet. Wenn ich um einen Platz im Himmel weiß, dann nicht, weil ich etwas geleistet hätte. Der einzige Grund liegt in Gottes Eingreifen und seiner unverdienten »Gutheit« uns Menschen gegenüber. »Nachfolge Christi« ist die einzig sinnvolle Antwort auf die Liebe Gottes – und nebenbei auch noch sehr befriedigend …
Im Sommer 1985 lies ich mich von einem bayrischen Schwaben in einem kleinen Weiher gemäß dem Befehl Jesu taufen. Zwei Jahre später schlug ich die Zelte in München auf, um hier mein Studium zu beenden, und in einer christlichen Gemeindearbeit mitzuhelfen. In der missionarischen Studentenarbeit dieser Gemeinde begegnete ich meiner späteren Frau – doch das ist eine andere Geschichte…
Uwe Brinkmann
Unterschleißheim, September 2005
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