Die Kraft der Schwachheit

Doris, eine kaufmännische Angestellte, hatte jung geheiratet. Kurz nach der Hochzeit wurde ihr Mann eingezogen. Er kam zu einer Truppe, die häufig an den Brennpunkten des Krieges eingesetzt wurde. Lange war seine Einheit in Russland, auch dann noch als der Rückzug begonnen hatte. Doris hatte regelmäßig geschrieben. Ihre Post wurde eines Tages nicht mehr beantwortet. Die Ungewissheit war groß. Sie hoffte sehr auf die Rückkehr ihres Mannes. Vergeblich!

Täglich brachte sie ihren Kummer vor Gott. Freunde begleiteten sie im Gebet. Irgendwann erfuhr sie durch einen Kameraden ihres Mannes, dass ihr Mann im Gefangenenlager verstorben war. Doris spürte, dass ihr Glaube nach der langen Wartezeit ins Wanken kam. Sie hatte doch so sehr gehofft, so treu gebetet. Alles vergeblich? Etwa zwei Jahre später entdeckte sie einen Knoten in der Brust. Die ärztliche Untersuchung ergab: es ist Krebs. Es kam zur Operation. Eine Brust wurde amputiert. Mut und Freude verschwanden aus ihrem Leben. Zum Gebet blieb kaum noch Kraft. Nur der Seufzer: „Ach, Herr, was nun?“

Das Wort der Schrift tröstet

In einer Bibelstunde der Gemeinde, zu der sie gehörte, wurde eines Tages über das Leben des Apostels Paulus gesprochen. Es wurde gerade der 2. Korintherbrief behandelt. Als man an das 12. Kapitel kam, weckten einige Formulierungen die besondere Aufmerksamkeit von Doris. Da war die Rede von außerordentlichen Erfahrungen des Apostels. Er erlebte eine Entrückung ins Paradies, also in die Welt Gottes. Er konnte sich das Geschehen nicht erklären. Er sah in die Welt Gottes hinein und hörte unaussprechliche Worte, die ein Mensch nicht aussprechen darf. In großer Bescheidenheit verzichtet er darauf das Erlebte auszumalen. Er wollte mit dieser Erfahrung nicht angeben. Im Gegenteil: er wurde sich seiner Hilflosigkeit, seiner Schwachheit, bewusst. Es plagten ihn notvolle Schmerzen. Die empfand er so, als hätte er einen Pfahl im Fleisch. Theologen meinen, er habe ein schlimmes Augenleiden gehabt, Epilepsie oder Malaria. Da hätte es nahe gelegen laut zu klagen, vielleicht sogar vor Schmerzen zu schreien. Er hat das nicht getan. Dreimal hat er Gott gebeten ihn von seiner Plage zu befreien. Da hat er sicher nicht nur leise ein paar Sätze gestammelt. Gefragt hat er sich bestimmt: Werde ich gehört? Jesus Christus antwortet ihm mit den Worten: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ (2. Korinther 12,9)

Sicherlich hat Paulus das Jesus-Wort aus dem Johannesevangelium gekannt: „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.“ Johannes spricht von der Gnade als einer großen Gabe Gottes. Wir sind“ unter der Gnade“, wenn wir unter dem ewigen Wort Gottes sind und in der Herrlichkeit des auferstandenen Jesus Christus leben. Für Luther ist Gnade die aus Gottes Wesen entspringende unendliche Güte Gottes, die sichtbar wird in Jesus Christus. Dieses Verständnis von Gnade fand Luther bei Paulus. Bei ihm ist Gnade die göttliche Gesinnung der Liebe, Güte und Treue, die Gottes Kindern zuteil wird. Gott schenkt seine Gnade frei. Gnade kann nicht erworben werden aufgrund menschlicher Verdienste. Gnade ist die freundliche Zuwendung Gottes. Sie schenkt Vergebung und Hoffnung.

Stark in der Schwäche

Das hörte Doris, von der ich eingangs sprach, in der Bibelstunde. Sie fragte sich, wie sie die Erfahrung des Paulus in ihr Leben übertragen könnte. Immer wieder las sie 2. Korinther 12. Sie wagte es nicht, Gott dafür zu loben, dass sie schwach ist. Aber es stand so da: Ich will mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne. Da fing sie an in ihrem Gebet nicht um Kraft zu bitten. Sie lernte vielmehr für ihre Schwachheit zu danken. Die Folge war, dass sie mit viel mehr Zuversicht in die Zukunft sah. Sie blieb beruflich wach, hatte den Mut einige Male die Arbeitsstelle zu wechseln, bis sie die Assistentin eines leitenden Mannes in der Verwaltung ihrer Stadt wurde.

Sie lernte es mit dem Apostel Paulus zu sagen: „Ich freue mich über meine körperlichen Schwächen, ja selbst über Misshandlungen, Notlagen, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage, denn wenn ich schwach bin, bin ich stark“ Sie wurde zwar nicht verfolgt, aber ihre Amputation und die bürokratischen Aktionen, die sie nun als Witwe zu erledigen hatte und manche Angst, wie es weitergehen würde, das lernte sie kennen und dann sagte sie sich: „Wenn ich schwach bin, bin ich stark.“ Sie gewann wieder Freude am Leben. Bevor sie starb, verfügte sie, dass nach ihrem Heimgang auf dem Grabstein stehen sollte: Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin (1. Korinther 15,10)

Dieser Blog-Beitrag von Horst Marquardt erschien zuerst auf Marquardts Bilanz . Lies hier den Original-Artikel "Die Kraft der Schwachheit".

Über Horst Marquardt

Horst Marquardt, Jahrgang 1929, ist evangelischer Theologe, Journalist, Autor und Mitbegründer mehrerer evangelikaler Werke. Im Laufe seines langen Leben war er maßgeblich beteiligt an der Gründung des ERF, der evangelischen Nachrichtenagentur idea und dem Christlichen Medienverbund KEP. Außerdem leitete er von 1999 bis 2017 den Kongress Christlicher Führungskräfte (KCF). Bis heute ist ihm die Verbreitung des Wortes Gottes sein wichtigstes Anliegen. Auf diesem Blog finden sich Andachten und Bibelauslegungen aus mehreren Jahrzehnten Lebenserfahrung.

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