Teil 4 von 5: Der Fall Jesus
Befragen wir Leute auf der Straße, wer Jesus war, bekommen wir nicht selten die Antwort: „Jesus war ein moralischer Lehrer und ein ethisches Vorbild. Er forderte Nächstenliebe und Gewaltverzicht.“ Das stimmt ja auch erst einmal. Jesus hat diese Dinge gefordert und eine Gesellschaft tut gut daran, wenn sie diese Vorschläge berücksichtigt. Ich komme aber, bei allem Respekt und in aller Höflichkeit, um eine wichtige Bemerkung nicht herum:
Wer die Lebensberichte Jesu aufmerksam liest, wird feststellen, dass Nächstenliebe und Gewaltverzicht zwar ein wichtiger Appell von Jesus waren, nicht aber im Zentrum seiner Botschaft standen. Einen ersten Vorgeschmack erhalten wir etwa, wenn wir nachlesen, wie Johannes, einer der zwölf Wegbegleiter Jesu, über seinen Meister berichtet:
„Niemand hat Gott je gesehen. Der einzige Sohn hat ihn uns offenbart, er, der selbst Gott ist und an der Seite des Vaters sitzt.“ (Joh 1,18)
Für Johannes war Jesus also weitaus mehr als ein bloßes moralisches Vorbild.
Und auch Paulus, einst scharfer Kritiker und Verfolger Jesu uns seiner Anhänger, schreibt in einem Brief im Jahr 55 n. Chr. an eine Gemeinde in der Stadt Philippi:
„Er, der Gott in allem gleich war und auf einer Stufe mit ihm stand, nutzte seine Macht nicht zu seinem eigenen Vorteil aus. Im Gegenteil: Er verzichtete auf alle seine Vorrechte und stellte sich auf dieselbe Stufe wie ein Diener. Er wurde einer von uns, ein Mensch wie andere Menschen.“ (Phil 2,6)
Auch Paulus ging davon aus, dass er es bei Jesus nicht nur mit einem einfachen Menschen zu tun hatte.
„Moment“, werfen nun manche ein. „Das waren bislang immer nur Aussagen über, aber keine von Jesus selber.“ Dieser Einwand ist natürlich berechtigt. Schauen wir uns also Situationen an, in denen Jesus von sich selbst spricht. Und damit nun nicht der Eindruck entsteht, ich würde mit vereinzelten Randkommentaren Jesu arbeiten, möchte ich auf einen Anspruch verweisen, den Jesus im Neuen Testament insgesamt 79 Mal erhebt. Ich nenne nur einmal drei Beispiele davon:
„Doch ihr sollt wissen, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben.“ (Mk 2,10)
„Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben.“ (Mt 20,28)
Ich sage euch: „Wer sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln Gottes bekennen.“ (Lk 12,8)
Wenn sich Jesus als „den Menschensohn“ bezeichnet, will er seinen Zuhörern freilich nicht die banale Information geben, dass er der Sohn eines Menschen oder eine menschliche Person sei. Nein, im jüdischen Kontext war (und ist) dieser Ausdruck überaus bedeutungsschwanger.
Gerade gläubigen Juden war klar, welchen gewaltigen Anspruch Jesus mit seiner Wortwahl erhob: Im alttestamentlichen Buch „Daniel“ wird der Ausdruck des Menschensohns eingeführt und meint dort so viel wie „Weltherr“ und „Weltrichter“. In Daniels Vision (7,13-14) wird von einer göttlich-menschlichen Figur berichtet, die mit den Wolken des Himmels kommt und der Herrschaft und Ehre gegeben wird, wie es nur Gott selbst gebührt.
Es ist natürlich nachvollziehbar, wenn diese Bedeutung für viele von uns heutzutage nicht mehr erkennbar ist. Dass wir aber Lücken im Textverständnis riskieren, wenn wir das Neue Testament, eine jüdische Textsammlung aus dem 1. Jahrhundert, mit unserer westeuropäischen Brille des 21. Jahrhunderts lesen, dürfte aber sicherlich auf der Hand liegen.
Wir sehen: Wir pflegen ein eher verdünntes Jesusbild, wenn wir denken, dass sich Jesus in erster Linie als moralischen Lehrer und ethisches Vorbild sah. Natürlich hat er auch zur Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit aufgerufen – sein zentraler Anspruch war aber nichtsdestotrotz ein anderer. Das können wir aber nicht nur an den Situationen erkennen, in denen sich Jesus als den Menschensohn bezeichnete, sondern auch an Gesprächen wie dem folgenden, als er mit einigen seiner jüdischen Zeitgenossen diskutierte:
„Ich und Gott, der Vater sind eins.“ Und von neuem hoben die Juden Steine auf, um Jesus zu steinigen. Da sagte er zu ihnen: „Ich habe vieles getan, was euch zeigt, dass ich im Auftrag des Vaters handle. Für welche dieser Taten wollt ihr mich steinigen?“
„Wir steinigen dich nicht wegen einer guten Tat, sondern weil du ein Gotteslästerer bist“, gaben die Juden zur Antwort. „Du machst dich zu Gott, obwohl du nur ein Mensch bist.“ (Joh 10,30ff.)
Spannend ist hier nicht nur die Selbstbeschreibung Jesu, sondern vor allem auch die Reaktion der Zuhörer: „Du machst dich zu Gott, obwohl du nur ein Mensch bist.“ Ein Feedback, das Jesus nicht wenige Male erhielt und weshalb er auch letztendlich zum Tode verurteilt wurde.
Sein Anspruch wird aber nicht nur durch das deutlich, was Jesus gesagt hat, sondern auch durch das, was er behauptete, tun zu können. Um das zu verdeutlichen, zitiere ich eine kurze Passage aus dem historischen Bericht von Markus:
Nach einigen Tagen kehrte Jesus nach Kapernaum zurück. Es sprach sich schnell herum, dass er wieder im Haus des Simon war. Viele Menschen strömten zusammen, so dass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war. Ihnen allen verkündete Jesus Gottes Botschaft. Da kamen vier Männer, die einen Gelähmten trugen. Weil sie wegen der vielen Menschen nicht bis zu Jesus kommen konnten, deckten sie über ihm das Dach ab.
Durch diese Öffnung ließen sie den Gelähmten auf seiner Trage hinunter. Als Jesus ihren festen Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ Aber einige der anwesenden Schriftgelehrten dachten: „Das ist Gotteslästerung! Was bildet der sich ein! Nur Gott allein kann Sünden vergeben.“
Jesus durchschaute sie und fragte: „Wie könnt ihr nur so etwas denken! Ist es leichter zu sagen: ‚Dir sind deine Sünden vergeben‘ oder diesen Gelähmten zu heilen? Aber ich will euch zeigen, dass der Menschensohn die Macht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben.“ (Mk 2,1-10)
Hier haben wir also nicht nur eine Situation, in der sich Jesus als den Menschensohn bezeichnet, sondern zusätzlich von sich behauptet, Menschen ihre Sünden vergeben zu können. Und auch hier gilt: Für Juden im 1. Jahrhundert war diese Aussage wesentlich verwerflicher als für viele von uns heutzutage.
Vor allem die Schriftgelehrten, die religiöse Elite der damaligen Zeit, zeigten sich im höchstem Maße empört über den Anspruch Jesu: Sündenvergebung war schließlich reine „Chefsache“– nur einer konnte Sünden vergeben und zwar Gott allein. Indem Jesus aber genau das von sich behauptete, tun zu können, lag sein Gottes-Anspruch klar auf dem Tisch: Wer mit ihm sprach, so sagte er, hatte es mit Gott selbst, dem Weltherrn und Weltrichter, zu tun.
Heutzutage besteht Forschungsdiskurs im Grunde ein Konsens darüber, dass Jesus mit dieser beispiellosen Autorität auftrat. Vor dem Hintergrund der belegten Historizität der neutestamentlichen Texte stehen wir damit vor drei Möglichkeiten, wie wir Jesus sehen können:
1. Jesus war größenwahnsinnig. Und zwar genau dann, wenn sein Anspruch, Weltherr und Weltrichter zu sein, nicht stimmt – er aber davon überzeugt ist.
2. Jesus war ein Lügner. Und zwar genau dann, wenn sein Anspruch, Weltherr und Weltrichter zu sein, nicht stimmt – und er das auch wusste.
3. Jesus sagt die Wahrheit. Und zwar genau dann, wenn sein Anspruch, Weltherr und Weltrichter zu sein, stimmt – und er ihn deshalb erhebt.
Einige Glaubenskritiker werfen an dieser Stelle immer wieder ein, dass es doch noch mehr Möglichkeiten als diese drei gebe – zumeist wird gesagt, dass der Anspruch Jesu frei erfunden sei und wir es bei Jesus, wie er uns im Neuen Testament präsentiert wird, mit einer Legendenbildung zu tun haben.
Ich kann diesen Einwand zwar gut nachvollziehen, er vergisst allerdings – bei allem Respekt – den aktuellen Stand der textkritischen Forschung und modernen Geschichtswissenschaft, der diese Möglichkeit ausschließt.
Ein Ausblick: Der historisch nachprüfbare Rand der Auferstehung
Nach christlicher Überzeugung ist der Anspruch von Jesus, an Gottes Stelle zu stehen, an einem Punkt in der Geschichte deutlich bestätigt worden: nämlich in der Auferstehung. Christen glauben, dass Jesus nach dem Tod nicht im Grab geblieben, sondern zu neuem Leben auferstanden ist.
Und: Dass die Auferstehung tatsächlich einen historischen Rand aufweist, der der kritischen Überprüfung standhält und sie – sofern man Gott(es Eingreifen) nicht kategorisch und prinzipiell ausschließt – plausibilisiert. Wie andere historische Ereignisse auch ist die Auferstehung zwar nicht im strengen Sinne beweisbar, wohl aber denkmöglich und begründbar.
Dem historischen Rand der Auferstehung wollen wir uns daher im letzten Abschnitt dieser Reihe widmen.
Dieser Blog-Beitrag von Stephan Lange erschien zuerst auf mitdenkend.de . Lies hier den Original-Artikel "Der Fall Jesus".