Die Krise von Wahrheit und Irrtum

… und welche Folgen das für die Kirche hat

Wissenschaftlicher Fortschritt entsteht durch die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum. In der Fachsprache heißt das: Wissenschaftliche Hypothesen (= Annahmen) müssen verifiziert (=bestätigt) oder falsifiziert (=widerlegt) werden. Der Streit, ob die Erde eine Kugel oder eine Scheibe ist, muss mit wissenschaftlichen Mitteln entschieden werden. Hätten die Leute damals (um des lieben Friedens oder der schönen Vielfalt willen) gesagt, dass jeder irgendwie auf seine Weise recht  hat, dann wären wir heute noch im Mittelalter.

Auch in der Theologie ist Wahrheitssuche nicht ohne Abgrenzung von Irrtümern möglich. Die Kirche kann nicht alles Mögliche vertreten wollen, wenn sie sich nicht ziel- und orientierungslos im Kreis bewegen und in der Bedeutungslosigkeit auflösen möchte. Aber obwohl die Theologie ja seit der Aufklärung gerne eine richtige Wissenschaft sein möchte, verabschiedet sie sich derzeit schrittweise vom Konzept von Wahrheit und Irrtum. Das Wort „Irrlehre“ ist selbst in der evangelikalen Welt inzwischen ein „Bäh-Wort“, ein Tabu geworden. Prof. Christoph Raedel, der Leiter des Arbeitskreises für evangelikale Theologie, schreibt dazu in seinem sehr empfehlenswerten Artikel „Evangelikale Theologie in Deutschland – Quo vadis?“:

„Die verheißungsvolle Welt der Postmoderne gilt als Hort der Vielfalt und Authentizität, die nicht durch Ausgrenzung, sondern Entgrenzung gekennzeichnet sei, was vielfach bis zum Verzicht auf einen Wahrheitsanspruch reicht, weil ein solcher schon wieder die Vielfalt stört. Diese Entwicklungen treffen auch die evangelikalen Milieus und folglich evangelikale Theologie. So wird es wahrnehmbar schwieriger, von notwendigen Grenzziehungen zu sprechen. Bei Grenzen denken wir an Stacheldraht und Mauern und an bestimmte Politiker, deren Namen in den Nachrichten damit in Zusammenhang gebracht werden. Obergrenzen sind schlecht, Ausgrenzung von Menschen geht überhaupt nicht. Der Entgrenzung gehört die Zukunft. Grenzen zu ziehen ist heute begründungspflichtiger als je zuvor. Doch wer sagen möchte, was uns Evangelikale eint, wer den gemeinsamen Grund bestimmen möchte, der muss auch angeben können, wo die Grenzen verlaufen. Kein Grund ohne Begrenzungen. Wo sind die roten Linien, die nicht überschritten werden dürfen? Und wie wird bei uns bestimmt, wo diese roten Linien verlaufen? Bereits diese Fragen zu stellen, ist inzwischen, auch unter uns, schwierig geworden. […] Die Postmoderne bedeutet den Abschied von der großen Erzählung des westlichen Abendlandes hin zu den vielen kleinen Geschichten, die alle ihre je eigene Wahrheit haben. Hier vollzieht sich der Übergang vom Zwang, sich zwischen einander ausschließenden Optionen entscheiden zu müssen, hin zur Flexibilität, sich aus den zur Verfügung stehenden Optionen seine Überzeugungen zu basteln. […] Man ist nicht festlegt auf Denkschulen, sondern bedient sich an den Versatzstücken verschiedener Entwürfe so, wie es für einen passt.“

Ich weiß nicht, ob Herr Prof. Raedel den wöchentlichen Podcast „Hossa Talk“ mit Gofi Müller und Jay Friedrichs kennt, der auch in vielen evangelikalen Kreisen äußerst beliebt ist. Die Ausführungen von Prof. Raedel beschreiben äußerst treffend, was in den Hossa-Talks passiert: Das Zweifeln, das Alles-in-Frage-Stellen, das Verunsichern, das Unfertige und Ungewisse, das Vorläufige, das langsame sich-Vortasten steht da hoch im Kurs. Man hat viele Fragen, die man – wenn überhaupt – nur „verschwurbelt“ beantworten kann. Man zitiert viele Theologen und Denker und nimmt sich überall heraus, was man gut findet. Gerne vergleicht man sich mit Israel in der Wüste: Die frommen Kreise mit klaren Ansagen, Regeln und Dogmen waren die „Fleischtöpfe Ägyptens“, die man hinter sich gelassen hat. Ägypten sei zwar bequem, aber unfrei, eng und bedrückend gewesen. Die Wüste sei zwar auch herausfordernd, atme aber im Gegensatz zu früher Freiheit, Weite und Bewegung.

Lagerbildung

Trotzdem grenzen sich auch die Hossa-Talker und ihre Fans (entgegen der eigenen Ideale) oft klar ab – und zwar gegen die Konservativen. In den Diskussionen, die ich beobachtet habe, leben sie oft geradezu von der Abgrenzung gegen die, die eine gut begründete Dogmatik mit Überzeugung vertreten. Während die eigenen Gedanken gerne mit heute so populären Begriffen wie „Neugier“, „Offenheit“, „Dialog“, „Barmherzigkeit“ oder „Vielfalt“ verbunden werden, wird evangelikaler Widerspruch schnell mit Attributen wie „Angst“, „Enge“, „Scheuklappen“, „Intoleranz“, „Arroganz“, „Besserwisserei“, manchmal gar mit „Militanz“ verknüpft. Bibeltreue Positionen wie z.B. die Sühnetheologie belegt man gerne auch mal mit Kraftausdrücken. Natürlich wird durch dieses Labeln von Andersdenkenden ein sachliches Ringen um Inhalte und um die Wahrheit äußerst schwierig (eine leuchtende Ausnahme ist der sehr empfehlenswerte Hossa-Talk Nr. 59 „Eine Lanze für Calvin“ mit Holger Lahayne). Die Folge: Schon jetzt geht ein tiefer Riss der Sprachlosigkeit durch die evangelikale Bewegung.

Der Verlust der Glaubwürdigkeit

Die Krise von Wahrheit und Irrtum führt zu einem massiven Verlust an Glaubwürdigkeit und Autorität der Kirche. Der Grund dafür ist einfach: Kirche hat nun einmal keine Autorität aus sich selbst heraus sondern nur als Botschafter von Gottes zeitlosem Wort und Gebot. Sie kann nur deshalb Trost und Antworten für die grundlegenden Ewigkeitsfragen der Menschen geben, weil sie aus einer göttlichen Erkenntnisquelle schöpft, die außerhalb ihrer selbst liegt und die sie nicht nach persönlichem Gusto verbiegen kann. Die Menschen haben ein feines Gespür dafür, ob Kirche aus der Autorität einer zeitlosen Wahrheit heraus handelt oder ob sie den Menschen nach dem Mund redet. Eine Kirche, deren Äußerungen zeitgeistabhängig wirken, mag vielleicht kurzfristig Beifall bekommen, aber langfristig marginalisiert sie sich im vielfältigen Meinungskonzert einer offenen Gesellschaft. Der schnell voranschreitende Bedeutungsverlust der Kirchen ist deshalb eine direkte Folge einer Theologie, die sich der postmodernen Abkehr von Wahrheit und Irrtum verschrieben hat.

Nur die Wahrheit macht frei

Das größte Problem an der Krise von Wahrheit und Irrtum aber ist: Es ist nun einmal noch immer allein die Wahrheit, die uns frei macht (Joh. 8, 32), nicht das, was uns gefällt oder was wir gut finden. Diese Einsicht formuliert auch Hossa Talk, ohne aber zu beantworten, wo denn Wahrheit herkommen soll, wenn das Schriftprinzip (also die Begründung von Wahrheiten mit dem Satz „Es steht geschrieben“) nicht mehr gilt. Der Dialog miteinander, mit der Bibel als einer „um Wahrheit ringenden biblischen Bibliothek“ (so wird die Bibel in Hossa Talk Nr. 45 genannt), mit der Tradition, der Wissenschaft und der Welt, auf den die Hossas hoffen, kann niemals zu halt- und trostbringenden Wahrheitsankern führen. Da liegt nun einmal kein gutes Land hinter der nächsten Ecke unserer menschlichen Gehirnwindungen sondern nur der Abgrund der menschlichen Selbstüberschätzung. Die grünen Auen und die frischen Wasser finden wir nur dort, wo wir den Worten des guten Hirten rückhaltlos vertrauen. Sola scriptura: Allein Gottes Wort ist die Wahrheit. Es bietet uns noch immer das wesentlich stabilere Fundament als jeder postmoderne Stuhlkreis, in dem wir uns unser eigenes hippes Gottes- und Weltbild selbst zusammen puzzeln. Deshalb zeugt es letztlich von Liebe, nicht von Rechthaberei, auch falsche Lehre in der richtigen Haltung offen anzusprechen, so wie es auch die Bibel wieder und wieder tut, um uns zu helfen und uns vor Schaden zu bewahren.

Siehe auch:

 

Über Dr. Markus Till

Evangelisch landeskirchlicher Autor, Blogger und Lobpreismusiker mit pietistischen Wurzeln und charismatischer Prägung