Die letzten Stunden, das letzte Gespräch mit der Mutter und die Beerdigung – in privaten Aufzeichnungen hielt die Schwester von Hans und Sophie Scholl ihre berührenden Erinnerungen fest. Ihr Manuskript ist sogar den meisten Historikern bisher nicht bekannt. FOCUS-Online-Autor Tim Pröse über die Aufzeichnungen der Jahrhundertzeugin.
Grab Nummer 73-1-18 gehört den Geschwistern Scholl. Auf dem Münchner Friedhof am Perlacher Forst sind sie bis heute vereint. Sophie und Hans Scholl liegen nicht nebeneinander in der Erde, sondern übereinander. Ihren Eltern war es wichtig, dass ihre Kinder, die im Leben so eng verbunden waren und gemeinsam in den Tod gingen, auch in der Ewigkeit ganz nah beisammen bleiben.
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Friedhof umstellt von der Gestapo
Was an diesem Nachmittag auf dem Friedhof geschah, ist bis heute kaum dokumentiert: Hans‘ und Sophies Bruder Werner kam auf Heimaturlaub von der russischen Front, um zusammen mit den Eltern und den Schwestern Elisabeth und Inge Abschied zu nehmen. Inge Scholl erinnerte sich, wie sich trotz ihrer Trauer die Sinne schärften, „wie allen Dingen eine eigenartige, plastische Realität inne war. Die Blumen, die in die Kränze gewunden waren: leuchtend rote Tulpen und die zarten Sonnenstaubwölkchen der Mimosen auf Lorbeergrund. Wie hatten sie Blumen geliebt, die beiden.“
Die Gestapo hatte das Gelände abgeriegelt. Hinter jeder Hecke spähten die Schergen nach Freunden und Weiße-Rose-Mitstreitern. Von den Verbündeten der Geschwister wagte sich nur Traute Lafrenz auf den Friedhof, Hans Scholls Freundin, von der er sich kurz zuvor getrennt hatte.
Pfarrer Karl Alt segnete Sophie und Hans mit den Worten des Johannes-Evangeliums aus: „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben hingibt für seine Freunde.“ Zwei Tage zuvor war der Pfarrer noch „mit bebendem Herzen“ zu den Geschwistern in die Todeszellen geeilt, um ihnen das Letzte Abendmahl zu geben. „Man vermeinte das Flügelrauschen der Engel Gottes zu vernehmen“, sagte der Geistliche.
Trauer nach der Hinrichtung auf 78 Seiten
In ihren bislang kaum bekannten Erinnerungen an München schrieb Inge Scholl, die nach dem Krieg Otl Aicher heiratete und Inge Aicher-Scholl hieß, kurze Zeit nach der Beerdigung folgende Zeilen: „In meinem Herzen war ein Fest, das keine Trauer zugelassen hat.“
Besonders vor Augen stand ihr die Szene, wie die „Mutter noch einmal die Särge streichelte, so wie man behutsam schlafende Kinder streichelt, mit einer seltsamen Beharrlichkeit. Als wolle sie diesen Moment letzter Zärtlichkeit ins Ewige bannen.“
Aicher-Scholls Manuskript ist bis heute den meisten Historikern nicht bekannt
Auf 78 eng beschriebenen Seiten verarbeitete Inge Aicher-Scholl in einer hochemotionalen Sprache ihre Trauer kurz nach der Hinrichtung ihrer Geschwister. Diese Erinnerungen, für die sie fast alle Augenzeugen aus dem Gefängnis befragte, waren als Geschenk und Trost für die Eltern gedacht, und nur ein kleiner Kreis von Freunden und Mitgliedern der Familie Scholl durfte sie lesen.
Kurz vor ihrem Tod im Jahr 1998 erlaubte mir Inge Aicher-Scholl, dieses Manuskript zu lesen, zu fotokopieren und darüber zu berichten. Es war ihr Wunsch, dass Teile davon einmal in einem Buch erscheinen. Im Münchner Institut für Zeitgeschichte sind die „Erinnerungen an München“ heute archiviert, aber man darf sie dort nicht einsehen. Deshalb sind sie selbst den meisten Historikern noch immer nicht bekannt.
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Seit 2005 sind dort aber die meisten Unterlagen, Briefe, Zeichnungen und Tagebucheinträge, die Inge Aicher-Scholl zeitlebens wie einen Schatz hütete, für Forschungszwecke abrufbar. Ein paar Tage verbringe ich dort und stoße unter Zehntausenden Kopien von Papieren auch auf einen scheinbar belanglosen Zettel, eine Art Karteikarte.
In zerlaufener Schrift listet sie seltsam akribisch ein paar Alltagsgegenstände auf. Erst auf den zweiten oder dritten Blick wird mir klar, dass es die Dinge sind, die die „am 22. Februar 1943 verstorbene Gefangene Scholl, Sophie“ bei sich trug, als sie sich in der Todeszelle auf ihr Ende vorbereitete: „1 Schachtel Streichhölzer, 1 Anklageschrift, 1 Stängelchen Schokolade“, ist auf der Karte zu lesen, die einer der Wärter geschrieben haben muss. Darüber der Stempel „Strafgefängnis München-Stadelheim“.
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Das letzte Gespräch mit der Mutter
Im Besuchszimmer des Gefängnisses Stadelheim beugte sich die Mutter über ein Geländer, das sie von ihren Kindern trennte, und reichte ihnen die „Brötle“. Sophie nahm sie mit einem Lächeln entgegen: „Ich habe ja noch gar nicht zu Mittag gegessen“, sagte sie und steckte die Plätzchen in ihre Tasche.
Die Mutter kämpfte darum, so gefasst wie ihre Tochter zu bleiben. Sie flüsterte mit ihr, wie es zwei Menschen tun, die eine feste Verabredung haben und sich noch ein letztes Mal versichern wollen, sie auf jeden Fall einzuhalten: „Gell, Sophie, Jesus!“. Da entgegnete ihre Tochter mit Nachdruck in ihrer Stimme: „Ja, Mutter, aber du auch!“
„Ach Mutter, die paar Jährle noch …!“
Dann fragte Magdalena Scholl ihre Sophie noch: „Mein Liebes, wirst du denn nun nie mehr bei mir zur Tür hereinkommen?“ Da antwortete ihre Tochter, der nur ein letzter Augenblick blieb: „Ach Mutter, die paar Jährle noch …!“ Zwei Stunden später, um Punkt 17 Uhr, legten die Scharfrichter erst Sophie, dann Hans, dann deren Mitstreiter Christoph Probst unter die „Fallschwertmaschine“.
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Henker über Sophie Scholl: „Ich habe noch nie jemanden so sterben sehen“
Dann drängten schon die Wächter. Doch selbst die waren beeindruckt von der Würde der drei Studenten. Und von dem in seinem Mut so erwachsenen Mädchen. „Ich habe noch nie jemanden so sterben sehen“, sollte der Henker Johann Reichhart, der 3000 Menschen in der Nazizeit köpfte, später über Sophie Scholl sagen. Mit einer „kindlich festen Bereitschaft“ sei sie mit ihrem Bruder „zu dieser Tür gegangen, durch die sie dann allein hat gehen müssen“, schrieb Inge Aicher-Scholl.
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Dieser Artikel ist ein Auszug aus einem Kapitel des Buchs „Jahrhundertzeugen. Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler. 18 Begegnungen“ des ehemaligen Focus-Reporters Tim Pröse. Es ist im Heyne-Verlag erschienen (320 Seiten. Gebundene Ausgabe: 19,99 Euro, Kindle-Edition: 15,99 Euro).
Dieser Blog-Beitrag von Uwe Brinkmann erschien zuerst auf brink4u . Lies hier den Original-Artikel "„Ich habe noch nie jemanden so sterben sehen“ (22.02.1943)".