Zeh, Juli, Leere Herzen, Luchterhand Literaturverlag München, 1. Aufl. 2017, Verlagslink, Amazon-Link
Vielen Dank an den Luchterhand-Verlag für das Rezensionsexemplar!
Eine kurze Geschichte, noch nicht einmal 350 Seiten lang, und doch finden sich darin alle notwendigen Elemente für einen erfolgreichen Roman: Gut durchdachte und konstruierte Persönlichkeiten, eine zumeist stringente Handlung, eine sich stetig steigernde Spannungskurve und eine ganze Reihe von Fragen, die sich unsere Zeit stellen muss. Ich habe den Roman von Juli Zeh insgesamt genießen können, wenngleich am Schluss noch manche Frage offen bleibt.
Die Geschichte spielt in der nahen Zukunft Deutschlands. Inzwischen regiert die BBB (Besorgte-Bürger-Bewegung). Keiner kennt mehr die Wahrheit; und die wenigsten sind an dieser interessiert; nicht zuletzt deshalb, weil die Menschen einfache Antworten wollen und ihnen die Realität zu komplex geworden ist. Die BBB gibt einfache Antworten und spaltet damit die Gesellschaft: Entweder man ist Anhänger oder Gegner der BBB.
Britta, die Hauptperson, und Babak, ihr Geschäftspartner, haben in dieser Zeit eine Nische gefunden, an die man kaum zu denken wagt: Die Professionalisierung von Selbstmord-Attentaten. Möglichst wenig Tote, möglichst große Sichtbarkeit. Und eine gute Quote von Aussteigern aus ihrem aufwändigen psychologischen Programm zur Prüfung der Anwärter. Babak hat eine Software erstellt, welche mithilfe von Algorithmen eine Auswahl trifft, wer zu den möglichen Teilnehmern ihres Programms gehören könnte. Viele potentielle Selbstmörder finden in diesem professionellen Programm heraus, dass sie eigentlich gar nicht willens sind, zu sterben.
Doch plötzlich gibt es Konkurrenz. Ein gescheitertes Attentat, welches nicht von der „Brücke“ aus vermittelt wurde. Alles ergibt keinen Sinn in diesem Fall. Der Algorithmus bescheinigt den beiden Tätern viel zu wenig Selbstmordwillen. Und wenige Tage später erhängt sich dennoch der überlebende der beiden „Attentäter“ in seiner Zelle. Nun überschlagen sich die Ereignisse, bis sich am Ende herausstellt, wer für das stümperhafte Attentat und die Konkurrenz verantwortlich ist, nämlich… [nein, so viel werde ich nun doch nicht verraten; so viel Spannung darf erhalten bleiben].
Die Autorin trifft den Nerv unserer Zeit sehr schön: Ein ähnliches Szenario um die BBB ist durchaus denkbar, wenn die etablierten Volksparteien weiterhin so weit entfernt von der Basis agieren und sich im Elfenbeinturm bewegen, während die Demokratie durch die selbstverstärkende Wirkung der sozialen Medien, Fake-News und verblödende TV-Shows weiter bröckelt und auch die Generationenkonflikte weiter zunehmen, was absehbar ist. Etwas mehr Phantasie hätte ich mir bei der Beschreibung der Technologie der Zukunft gewünscht; unter der Annahme, dass sich der bisherige Fortschritt auch in Zukunft vergleichbar schnell entwickelt, dürfte bis in den 2020er-Jahren noch einiges mehr erfunden sein als die „Glotzis“, das Spielzeug von Zehs Zeit, und verbesserte Algorithmen. Vermutlich hätte Zeh gut daran getan, sich noch ein wenig mehr in die Zukunftsforschung zu vertiefen und dabei ihrer Vorstellungskraft freien Lauf zu lassen.
Die Persönlichkeiten von Britta und Babak werden Stück für Stück enthüllt, wobei dem Schluss dabei eine wichtige Rolle zukommt, worauf ich noch zurückkommen werde. Das Buch wird gerade durch diese langsamen Enthüllungen der Charaktere immer wieder neu mit Spannung geladen. Immer wieder fragt sich der Leser: Oh, bisher habe ich mir Britta ganz anders vorgestellt! Und doch sind diese Enthüllungen in sich stimmig. Sie enthalten im Verlauf des Buches keine großen Brüche oder Widersprüche, aber neue Facetten zeigen immer wieder auf, dass man sich im ersten Moment täuschen kann. Bei Babak ist der Charakter von Anfang an stärker festgelegt, weshalb er im gesamten Buch auch eher in den Hintergrund rückt. Interessant ist hingegen Julietta, sie ist der vermittelnde Charakter, wenn Britta und Babak sich uneinig sind, dann lässt sie deren Zorn auf sich selbst fallen und führt die beiden – oft ungewollt – wieder zur Einigkeit.
Enttäuschend hingegen fand ich den Schluss. Hier kommt es zum totalen Bruch in der Geschichte. Babak bringt auf den Punkt, was auch der Leser in dem Moment über Britta denkt: „Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, warum du das getan hast.“ (S. 348) Entweder hat Britta die ganze Zeit nur ein übles Spiel gespielt und ist in Wirklichkeit die BBB-nahe Terroristin, oder sie ist dermaßen gleichgültig geworden, was wiederum ihrem gesamten Charakter widersprechen würde. Dieser Schluss lässt alles offen – und möglicherweise ist das von Zeh so geplant. Ich habe bisher noch keine anderen Romane der Autorin gelesen, um diese Frage etwas gewisser beantworten zu können (immerhin spiegelt jeder Roman die Weltanschauung ihres Autors in gewissen Punkten wider). Im ersten Moment würde ich dann die Botschaft von „Leere Herzen“ so verstehen, dass alles sinnlos ist und man einfach mit dem Mainstream mitgehen soll, weil ja alle Moral relativ ist. Doch irgendwie ist mir die Autorin noch zu sympathisch, als dass ich ihr diese Sichtweise unterstellen wollte. Vielleicht ergibt sich mit dem Roman „Unterleuten“, den ich demnächst auch noch lesen werde, ein etwas stimmigeres Bild.
Leere Herzen ist ein spannender Roman, der in der baldigen Zukunft Deutschlands spielt, und vieles ist sehr realistisch gezeichnet. Der Schluss und die sich daraus ergebende Gesamtbotschaft des Romans haben mich jedoch enttäuscht, weshalb ich dem Buch vier von möglichen fünf Sterne vergebe.
Dieser Blog-Beitrag von Jonas Erne erschien zuerst auf Jonas Erne - Der Blog . Lies hier den Original-Artikel "Buchtipp: Leere Herzen".