Zu dieser Selbstprüfung rufe ich zumindest mich selbst auf, gehöre ich doch auch zu denen, die regelmäßig die Gnadenlehre zelebrieren.
So will ich mich auch hier uneingeschränkt und deutlich zum Monergismus bekennen. Dennoch sehe ich bei den reformatorisch orientierten Christen, Gemeindeneugründungen und Projekten Probleme, die ich als hinderlich für echte erweckliche Kraft und Wirkung dieser Bewegung (wenn man so davon sprechen kann) halte. Urteilt, selbst ob ich recht liege.
(Hinweis: ich gebrauche in diesem Artikel monergistisch / reformiert / calvinistisch als Synonyme, was nicht besonders präzise aber für den Zweck dieses Artikels ausreichend ist. Gemeint ist damit das, was C. Trueman in Grace Alone so definiert: „This refers to an understanding of grace in which there is one mover, and that is God. Human beings are passive toward grace, which is both prevenient and irresistible.“)
Häufig werden Probleme genannt, die unrealistisch sind, und die in der Praxis kaum stattfinden. Da wäre zum einen, die These, dass das Wissen um die Vorherbestimmung der Erretten dazu führt, dass man nicht mehr evangelisiere oder das Evangelisieren gar für verkehrt halte. Das ist sicher in der Kirchengeschichte vorgekommen (und nicht nur unter Christen, die sich zum Monergismus bekennen) und wird womöglich auch heute von Menschen vertreten. Mir sind solche Menschen auf jeden Fall nicht begegnet. Es ist auch ausreichend deutlich, dass Gott sowohl Ziel (Berufung der Erwählten) wie Mittel (Predigt des Evangeliums) bestimmt hat.
Auch dass die Gnadenlehre träge und gleichgültig zur Heiligung mache, ist meines Erachtens eher ein Strohmannargument und geht an einem anderen eher wichtigeren Problem vorbei, dass man auch am Kampf „um Erwählungsgewissheit“ irre werden kann, weil man immer meint, „nicht genug Heiligkeit“ zu besitzen, aus der man diese „Gewissheit der Erwählung“ ziehen könne. Dieses Zweifeln und Grübeln, ob man denn nun wirklich gerettet sei, wird auch nicht dadurch gelöst, dass man Erwählung zum Heil leugnet (wie manche hoffen). Der gleiche hartnäckig knabbernde Zweifel wird dann mit einer neuen Frage an uns herantreten: Ob denn unsere Bekehrung recht und wahr sei, wenn wir doch in unserer vermeintlichen Heiligung nur so tümpelhafte Schritte tun. Vielleicht ist sie nur erheuchelt, vielleicht sollten wir es mit noch einer weiteren Beichte, mit noch einem Vorlaufen beim nächsten Altarruf versuchen usw… Zum Einwand, dass Heilssicherheit träge macht, ist eigentlich in der These selbst die Lösung zu finden: Ein vergeblich vermeintliches Hoffen aufgrund einer Sicherheit, um die man sich eigentlich nicht schert, ist ein unmögliches Konstrukt. Was mich nicht interessiert, auf das hoffe ich nicht. Deswegen hat jeder noch so bibbernde Zweifler weit mehr zu hoffen, als jeder gegenüber der Errettung gleichgültige.
Aber nun drei Symptome, die ich für herausfordernder und wichtiger halte, in hoffentlich fairer Kürze. Ich bin auf eure Rückmeldungen gespannt:
Kontrollfreaks unter Gottes Kontrolle?
Ein zentrales Element reformatorischer/reformierter Theologie ist die Souveränität Gottes, die sich durch seine Vorsehung auf alle Welt- und Lebensbereiche ausstreckt. Gott sitzt im Regimente und führt ein prächtiges Regente! Das Gott nicht bloß ein mächtiges Programm abspulen lässt, seit die Schöpfung fertiggestellt ist, sondern vielmehr „alle Dinge mit seinem kräftigen Wort hält“ (Heb.1.2) ist ein mächtiger Trost. Gott kümmert sich um die kleinsten Sperlinge, wie viel mehr um seine Kinder! Gott ist real da, er ist wirklich und ganz persönlich gegenwärtig. Gott ist eben nicht ein entfernter Computer, der nun seit 7000 Jahren ein ausgeklügeltes Computerprogramm abspielen lässt.
Nur wo bleibt die Gelassenheit, dass auf dieses Wissen folgen sollte? Ich beobachte gerade unter Calvinisten eine teilweise erschütternde Neigung zu der nächsten perfekten Entscheidung. Als gebe es keine Führung Gottes im Leben seiner Kinder mehr! Ist es nicht schade, eigentlich an der Quelle der Vorsorge Gottes zu sitzen, und sich nicht daraus zu tränken. Nicht derart Kontrollfreakig zu sein.
Im Übrigen, um präziser zu beschreiben, was ich mit Kontrollfreakigkeit meine: Es ist ein Geist, der kaum den nächsten Schritt wagt, wenn nicht die nächsten 20 schon klar erwogen sind, wenn nicht Varianten b bis y bedacht wurden, die unternommen werden können, wenn Schritt n>1 irgendwie schiefgeht. Doch heißt das Wissen um eine souveräne und zuverlässige Führung Gottes nicht gerade, dass man mutig auch den Schritt „in das Tal der Finsternis wagt“, weil eben unser guter Hirte dort auch sicher ein gutes Mahl im Angesicht unserer Feinde bereitet? Zuletzt: Wer wird unserer Botschaft von der uneingeschränkten Kontrolle Gottes glauben, wenn wir „Jesus nicht einmal den Steuermann über unser Leben sein lassen“, um aus einem bekannten Kinderlied zu zitieren. Das betrifft alle Lebensbereiche: Arbeit (und Stellenwechsel), Familie (samt Familienplanung), Erziehung (samt der Sanftmut). In so vielen Fragen dürfen wir täglich, wahrscheinlich eher minütlich Gott die Kontrolle überlassen.
Vorsehung = Antideterminismus!
Dieses Symptom ist mit dem ersten verwandt. Gerade in manchen Foren oder in Facebookdebatten beobachte ich zu häufig, dass man säkulare Modelle des Determinismus mit dem biblischen Modell der Vorherbestimmung gleichsetzt. Doch Gnade bedeutet doch gerade, dass immer eine Chance da ist! Wer ist der hoffnungsloseste Fall, dem du diese Woche begegnet bist? So ein Typ, von dem du denkst, „Der ändert sich nie!“ – Ich weiß etwas über ihn: „Gott kann ihn ändern!“ Ich persönlich bin hyper-anti-deterministisch! Ich akzeptiere keine Bestimmung als die Bestimmung, die Gott festlegt!
Francis Schaefer zeichnet in seinem Werk „The Church before the watching World“ drei rote Linien , die eine Gemeinde oder einzelne Christen außerhalb des Christentums bringen würden (O-Ton: “ there are absolute limits beyond which a Christian cannot go and still stand in the historic stream of Christianity“) Ich denke es wird uns eine Hilfe sein, uns an diese Worte von Schaeffer zu erinnern (Aus dem Anhang mit dem Titel“Some absolute limits“):
„Das wichtigste intrisische Konzept ist, dass Gott existiert und dass er frei ist. Das Christentum hat kein deterministisches System. Wir müssen uns jederzeit von jeglichem deterministischen System fernhalte – unabhängig der Sätze, die verwendet werden, ein solches System zu bilden. Der Grund dafür, dass das Christentum nicht deterministisch ist, ist der, dass wir im Christentum einen nicht-deterministischen Gott haben. Dies kann nicht stark genug betont werden. Gott schuf nicht, weil er es tun musste. „Er ist da“ und „Er ist frei“. Seine Freiheit schließt den wichtigen Punkt ein, dass er nicht hätte erschaffen müssen Nichts kann grundlegender sein als das. Jedes mal, wenn du in Richtung des Punktes kommst, dass „Gott nicht frei sein kann“, sollte bei dir ein Alarmlämpchen angehen“ – (Eigene Übersetzung aus „The Complete Works of Francis A. Schaeffer: A christian Worldview, Volume Four, A Christian View of the Curch (c) 1982, Francis A. Schaeffer. S. 167-168 -)
Achtung! Genau aus diesem Grund verwerfe ich den Determinismus der Selbstbestimmung, „die Gott bei den Menschen seiner Schöpfung respektiert“. Ich will keiner Bestimmung, weder dem Zufall, noch dem Schicksal, noch den Machtspielen anderer, noch und am aller wenigsten meinen Trieben, Neigungen oder gar meinem Willen ausgeliefert sein, sondern allein Gott! Eigentlich weiß das nicht nur Schaeffer! Wir wissen das alle; ich sehe, und ich gestehe nicht nur in reformierten Gemeinden, diese Tendenz, unseren freien Gott durch allerlei Determinismen überzulagern.
Wird man durch Erkenntnis selig?
Das wir als Christen allezeit mit der Gnade Gottes rechnen dürfen und sollen, darf uns sanftmütiger zu unserer eigenen Lebensgeschichte , aber auch zu unserem Nächsten werfen lassen. In mehr als der Hälfte der „Zeugnisse“ von Reformierten Christen beobachte ich jedoch , dass gar nicht von der Bekehrung berichtet wird, sondern „vom Erlebnis, als man die Gnadenlehre verstanden hat“. Nun will ich gar nicht abstreiten, dass in der biblischen Therminologie „erkennen“ eine ganz enge Beziehung zur Liebe zu Gott hat und wir „durch das Erkennen der Wahrheit frei werden“.
In der Praxis führt das aber doch dazu, dass man jene „die das noch nicht verstehen“ in irgendeiner Weise „für nicht so weit hält“. „Man will sie ja nicht verurteilen, – schließlich sei Gott gnädig – aber wahrscheinlich sieht das schon düster aus“ – Kurz: Offensichtlich hat man Gotteserkenntnis mit Intellektuellen Fähigkeiten verwechselt.
Doch mit dieser Haltung wird die Gnade Gottes untergraben! Denn Gott ist eben zu uns Gnädig „unabhängig von unserem Verstehen“! Denn wenn wir die Liebe Christi erkennen, so übertrifft diese ja alle Erkenntnis (so lehrt das Eph. 3,19)
Gottes Gnade ist auch sicher unabhängig von und größer als unsere Fähigkeit postreformatorische Schriften zu lesen und die darin enthaltenen Thesen zu artikulieren. Um es leicht zynisch auszudrücken: Das es auch vor der Synode in Dordrecht Christen gab, die voll Erkenntnis der Gnade Gottes triefen, beweist, dass es unabhängig von dem Wissen „um die 5 Punkte“ möglich ist, so zu leben, dass „man sein ganzes Hoffen allein auf Christi Blut und Kreuzespein“ baut. Gott rettete mich, als ich 10 war, nachdem er mich zuvor schon seit meiner Geburt mit seiner Gnade überschüttete. Er war schon zu der Zeit mein zuverlässiger Hirte, auf dem man fest bauen kann, als ich noch nicht einmal wusste, wie man Calvinismus buchstabiert.
Aus dieser Fixierung auf „intellektuelle Debaten“ wird nur viel Unsicherheit folgen. Irgendwann sind wir „lost in definition“. Ich verzichte hier auf Links auf diverse „calvinistische Foren“, in denen jede kleinste Fehlformulierung aufs schärfste verteilt wird. Oder diese „Intellektualität“ endet darin, das man eigentlich kaum noch etwas aus der Schrift erklären kann, sei es dem ungläubigen Nachbar oder den eigenen Kindern, ohne seine Rede mit Fachbegriffen, konfessionellen Definitionen, kirchengeschichtlichen Konventionen und einen Zitat von einem Theologen, der meist den Vornahmen John trägt, zu untermalen. Mea Culpa! Mea Maxima Culpa! Dieser Punkt bringt mich selbst zur größten Reue, da ich viele Momente in meinem Leben zu beklagen habe, wo ich durch intellektuelle Überfrachtung eine gute Gelegenheit für ein einfaches Zeugnis vernichtet habe.
Ich kann auch diese Prognose abgeben: Langfristig wird diese Fixierung auf Intellektualität zu unmündigen und mutlosen Christen führen. Neulich berichtete mir ein Mitglied einer reformiert-baptistischen Gemeinde, dass er keine Kinderstunden unter Flüchtlingskindern abhalten darf, bis er nicht mindestens ein umfangreiches Theologiestudium vorweisen kann (natürlich vorzugsweise aus Amerika, idealerweise am WTS oder zumindest am SBTS – Nein wir sind keine Kontrollfreaks, siehe Kapitel 1!) . Was mich traurig machte, war der verzweifelte Versuch dieses Bruders sich diese übergriffige Regel irgendwie schlüssig für sich selbst zu erklären. Diese Schilderung ist bei weitem leider kein Einzelfall! Einst sprach ich mit einem wichtigen Leiter einer reformierten Gemeinde. Ich erwähnte, dass ich auch in meinem Ort eine reformierte Gemeinde kenne. Kurz leuchteten seine Augen auf, aber als er hörte, dass es „nur Baptisten“ sind, wandte er sich enttäuscht ab. Sie waren einfach offensichtlich „nicht reformiert“ genug. Ehrlich und Frei gefragt (und ich hätte es auch damals tun sollen): Wo ist hier die Gnade?
Ein zu hoher intellektueller Anspruch trifft sowieso bereits nur eine sehr enge Gruppe (Stichwort junge männliche Ingenieure) wird aber schließlich in einer großen bunten Gruppe nur Wenige zum Dienst ermutigen und viele entmutigen, weil man letztes Endes den „Dienst für Gott und auch das Denken und Anwenden den Profis“ überlassen wird. Wahrlich ist Paulus Warnung angebracht, dass das „Wissen aufbläht“ und die Liebe bessert.
Mit der Liebe Gottes möchte ich diesen Artikel abschließen. Die Liebe Gottes, die reichlich in unsere Herzen ausgegossen ist, ist das, was für alle drei geschilderten Symptome das Heilmittel ist. Die Liebe Gottes in Christus sagt uns deutlicher als alles andere, dass er da ist. Das wir mit ihm rechnen dürfen. Die Liebe Gottes wird uns selbst milder, nachsichtiger mit unseren Nächsten werden lassen, da wir im Wachstum dieser göttlichen Liebe nur sehen, wie sehr wir geliebt und wie viel uns vergeben wurde. So können wir Zeugen einer auf jeden Fall überzeugenden Liebe Gottes werden. Das wird auch das Bemühen um unsere Nächsten ändern. Wir werden diese nicht dahin formen, dass sie theologische Begriffe richtig definieren, sondern in der „Liebe und Erkenntnis Gottes wachsen“. – Gott sei uns gnädig!
Lieber Sergej,
ich bewundere deinen Willen UND deine Fähigkeit zur Selbstkritik.
Man nennt es: Weiter lernen und weiter glauben.
Ich bin berührt.
Gott segne dich.
Sergej, ich äußere mich inhaltlich später…… falls ich noch neben vielem anderen = vor Ort genügend Kraft dazu entwickele.
Stichwort: Fragen ist besser als immer und immer wieder zu proklamieren und zu behaupten. Deine Fragen an dich selbst und damit an jeden hier sind viiiieeeel wichtiger als ein BIBLISCH unreflekierter Eiertanz, der durch Till immer wieder beim ABC von vorne beginnt. – TRAGISCH!
Der Calvinismus ist als Irrtum entlarvt, also widerlegt: https://www.academia.edu/44621183/Die_Widerlegung_kirchlicher_Pr%C3%A4destinationslehren
Calvinismus mit der Prädestinationslehre gleichzusetzen, zeigt ein falsches Verständnis beider Begrifflichkeiten. Der Text besteht auch aus vielen Irrtümer, so dass er den Calvinismus nicht wiederlegen kann. Ein oder besser mehrere Blicke in die Institutio oder auch in Luthers Kleinen Katechismus wäre für den Autor hilfreicher gewesen.
Das Schöne am Calvinismus ist das P in TULIP. Man muß sich nicht abstrampeln und aus eigener Kraft im Glauben bleiben, was gar nicht geht. Das Durchhalten bis zum Ende ist genauso Geschenk Gottes wie der Beginn des Glaubens.
Selbst jeder Schritt der Heiligung ist rein monergistisch: Philipper 2: “ 13 Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“ Da braucht man sich auch keinen Streß wegen zu wenig Heiligung zu machen.
Alles Gute!
Danke für deinen Kommentar.
Wie deutest du dann die SAche mit der Identität. Für was bin ich als Mensch verantwortlich? Bleiben wir bloß Roboter und eigentlich „willenlos“?