Die gute Nachricht vom erlösenden Kreuz

Dieser Artikel entspricht in weiten Teilen dem gleichnamigen Vortrag, der am 15.10.2022 bei der Pfarrerarbeitsgemeinschaft Confessio gehalten wurde, und der hier auf YouTube angesehen werden kann:

Kürzlich hatte ich im Internet eine kleine Diskussion mit einem Pfarrer. Ich hatte die These vertreten, dass wir in der Kirche keine Einigkeit haben zu der Frage, was denn eigentlich das Evangelium ist. Der Pfarrer war empört. Seine Meinung war: Selbstverständlich sind wir beim Evangelium beieinander. Und natürlich verkünden wir dieses Evangelium gemeinsam. Auf meine Frage, was denn aus seiner Sicht diese gemeinsame Evangeliumsbotschaft ist, antwortete er:

Das Evangelium ist, dass Gott in Christus Mensch wurde, um der Welt seine Liebe zu zeigen.

Nach kurzem Nachdenken habe ich geantwortet: Diese Aussage stimmt zwar. Aber das Problem beginnt schon bei der Frage: Sind wir uns denn wirklich einig darin, dass Gott in Christus Mensch wurde? War Jesus von Nazareth wirklich der präexistente, menschgewordene Gott, wie das Johannes 1 so eindrücklich bezeugt? Meine Wahrnehmung ist, dass das in der evangelischen Theologie bestenfalls eine Minderheitenmeinung darstellt. Von Konsens kann keine Rede sein.

Zudem bin ich der Meinung: Ein Evangelium, das sich nur auf die Liebe Gottes beschränkt, aber nichts sagt über Sünde, Schuld, Trennung von Gott, Vergebung, Rechtfertigung, Erlösung, das ist höchstens die halbe Botschaft. Das ist bei weitem nicht das Evangelium der Bibel, das der Kirche aufgetragen ist.

Es geht um den innersten Kern unseres Glaubens

Die kurze Diskussion macht deutlich: Das Evangelium und die Kreuzestheologie ist kein Sonderthema für nerdige Theologen. Bei der Kreuzestheologie geht es ans Eingemachte. Es geht um den innersten Kern unseres Glaubens, um den Kern des Evangeliums, um das Zentrum der Kirche Jesu. Wer die Kreuzestheologie ändert, der verpasst dem Christentum keinen neuen Haarschnitt, sondern der nimmt am Christentum eine Herztransplantation vor. Die Frage, warum Jesus am Kreuz gestorben ist, hat für unseren Glauben und für unsere Kirche extrem weitreichende und sehr praktische Konsequenzen.

Persönlich habe ich erst relativ spät angefangen, mich mit dieser Frage zu beschäftigen. Jahrzehntelang war für mich die Antwort eigentlich simpel und sonnenklar. Warum ist Jesus am Kreuz gestorben? Logisch: Für mich! Um meiner Vergehen willen! Die Strafe, die ich verdient hätte, lag auf ihm, damit ich Frieden habe mit Gott. Sein Opfer hat meine Schuld bezahlt (oder „gesühnt“). Mein Schuldschein hängt am Kreuz. Deshalb habe ich freien Zugang zu Gott und deshalb steht mein Name im Buch des Lebens. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass es bei diesen allerzentralsten Aussagen unseres Glaubens etwas zu diskutieren gäbe.

Ein Wust von Deutungen

Es ist erst ein paar Jahre her, dass ich einsehen musste: In der theologischen Welt ist bei diesem Thema überhaupt nichts klar ist, im Gegenteil: Zur Frage, warum Jesus am Kreuz gestorben ist, ist mir ein ganzer Wust an „Deutungen“ entgegengeschwappt. Klar war für diese Theologen eigentlich nur eines: Meine simple Sühneopfererklärung sei jedenfalls grundverkehrt.

In der Mediathek Worthaus fiel mir auf, dass gleich zwei Referenten (Thomas Breuer und Wilfried Härle) wortgleich sagten: „Gott braucht kein Opfer und schon gar kein Blut.“ Thomas Breuer legt zudem nach mit den Worten: „Ein Gott der Menschenopfer braucht ist nicht der gütige Vater, es ist nicht Jahwe, es ist der Gott Moloch. Es ist kein Gott dem man vertrauen kann.“ „Jesu Tod an sich ist sinnlos.“ „Erlösend ist nicht der Tod am Kreuz, erlösend ist allein die Liebe Gottes.“

Sehr beschäftigt hat mich auch der Worthausvortrag von Thorsten Dietz zu diesem Thema. Darin äußert er: „Diese stellvertretende Strafleidungstheorie, wo ist das im neuen Testament? Das ist nicht zu finden!“ „Nicht Menschen versöhnen Gott, sondern Gott versöhnt Menschen. … Das ist ein Versöhnungshandeln Gottes, ein Befreiungshandeln, es ist ein Heilshandeln. Und da ist 0,0 bei: Ja, jetzt musst Du Gott wieder versöhnen, der ist sauer, der kocht vor Wut, du musst den beschwichtigen. Das ist überhaupt nicht. … Die Botschaft ist: Gott für uns! Jesus für uns! Jesus zu unserem Heil! … Es geht um eine Botschaft der Liebe. Es geht um eine Botschaft der radikalen Barmherzigkeit. Es geht um eine Liebeserklärung. Es geht darum, was man manchmal mit einem Blumenstrauß ausdrückt: Ein  großes »Für Dich«! Ein großes „Ja“!“

Und im freikirchlich geprägten SCM-Buch „glauben lieben hoffen“ schreibt der Baptistenpastor Matthias Drodofsky: „So wurde und wird häufig argumentiert: Infolge des Sündenfalls ist der Mensch getrennt von Gott, und nur ein vollkommenes Opfer kann die Beziehung zwischen Gott und Mensch wieder in Ordnung bringen. … Hat eigentlich mal jemand gefragt, warum eine Opferhandlung  … dies erreichen können soll? … Gott vergibt, weil er ein gnädiger Gott ist, ohne dass Gott durch Töten und Blutvergießen milde gestimmt werden müsste. … um die Sünde der Menschen hinweg zu nehmen, braucht es eigentlich kein Opfer und keinen Geopferten.“

Ist das Kreuz nur für die Menschen da?

Immer wieder wird da also gesagt: Das Kreuzesgeschehen ist für die Menschen da. Gott muss nicht versöhnt werden. Gott braucht kein Opfer. Bei Gott ist alles in Ordnung. Er ist nicht gekränkt oder sauer. Und da möchte man spontan natürlich am liebsten sagen: Ja, natürlich. Bestimmt ist Gott nicht launisch. Er hat sich emotional vermutlich sehr viel besser im Griff als wir. Aber trotzdem frage ich mich: Geht es beim Kreuzesgeschehen wirklich nur um uns Menschen? Geht es nur darum, dass wir Menschen uns mit Gott, mit uns selbst und mit anderen Menschen versöhnen können? Wäre für Gott denn auch ohne das Kreuz schon alles in Ordnung gewesen?

Eine Fülle von Bildern und Vergleichen

Richtig ist: Im Neuen Testament werden sehr verschiedene Bilder und Begriffe gebraucht, um die Bedeutung des Kreuzestodes zu beschreiben. Da gibt es Bilder aus der Welt des Tempelkults, aus dem Bereich der Justiz, aus der Welt des Sklavenmarkts, aus dem Umfeld der Familie. Da ist die Rede von Sühnung, von Rechtfertigung, von Erlösung, von Versöhnung. Aber was folgt daraus? Heißt das, dass sich das Neue Testament gar nicht einig darüber ist, was der Tod Jesu am Kreuz zu bedeuten hat? Sind das alles nur Deutungsversuche der ersten Christen, die darum gerungen haben, diesem grauenvollen Geschehen irgendwie einen Sinn zu geben? So wird das ja manchmal dargestellt.

Genau mit dieser Frage habe ich mich intensiv beschäftigt. Im Neuen Testament ist mir dabei aufgefallen: Man kann viele Bibelverse finden, in denen mehrere dieser Bilder und Vergleiche in einem Satz miteinander verbunden und aufeinander bezogen werden. Das heißt: Diese Bilder wirken zusammen! Man kann sie nicht gegeneinander ausspielen oder als alternative Varianten betrachten. Sie beschreiben alle gemeinsam dieses große Heilsgeschehen am Kreuz.

Das stellvertretende Opfer: Ein roter Faden quer durch die ganze Bibel

Was mich aber am meisten beeindruckt hat, sind diese großen roten Fäden zum stellvertretenden Sühneopfer, die sich quer durch die ganze Bibel ziehen. Ich denke zum Beispiel an die Geschichte von Abraham und Isaak, bei dem ein Schaf stirbt anstelle von Isaak, und zwar genau an dem Ort, an dem später der Sohn Gottes tatsächlich diesen Opfertod stirbt. Ich denke an das geschlachtete Lamm beim Auszug Israels aus Ägypten, das die Israeliten vor dem todbringenden Gericht Gottes rettet. Ich denke an die Evangelien, in denen Jesus als das Lamm Gottes bezeichnet wird, das die Sünde der Welt trägt. Und nach der Chronologie des Johannes starb Jesus genau in dem Moment am Kreuz, in dem im Tempel die Passalämmer geschlachtet wurden. Ich denke an die Offenbarung, in der es vielfach heißt, dass die Heiligen ihre Gewänder im Blut des Lammes gewaschen haben. Und was mich persönlich am meisten beeindruckt ist dieses unfassbare Kapitel Jesaja 53! Da lesen wir, dass dieser Gottesknecht um unserer Sünde willen zerschlagen wird, dass die Strafe auf ihm liegt, dass er wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt wird, dass er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, dass er unsere Sünden trägt.

Das bedeutet: Die gesamte Bibel ist in Bezug auf das Motiv des stellvertretenden Opfertods absolut klar. Und es ist dieser stellvertretende Opfertod, der auch im Zentrum all dieser neutestamentlichen Bilder steht. Der Theologe John Stott schrieb dazu:

„Wenn Gott in Christus nicht an unserer Stelle gestorben wäre, könnte es weder Sühnung noch Erlösung, weder Rechtfertigung noch Versöhnung geben.“

„Für uns“ gestorben – was bedeutet das?

Dass das so ist, weiß die Kirche nicht erst seit Anselm von Canterbury, wie manche Leute meinen. Schon im Nicäno-Konstantinopolitanum, dem großen Glaubensbekenntnis aus dem 5. Jahrhundert, das bis heute weltweit die christlichen Kirchen verbindet, heißt es: Er ist „FÜR UNS“ gestorben („PRO NOBIS“). Was bedeutet das? Ist dieses „für uns“ wirklich nur als Liebesbeweis gemeint? Das kann ich mir nicht vorstellen. Wie sollte denn eine grauenvolle Hinrichtung ein Liebesbeweis sein? Meine Frau freut sich, wenn ich ihr Blumen bringe, aber nicht, wenn ich ihr schreibe: Heute sterbe ich für Dich. Das macht keinen Sinn. Ein Liebesbeweis wäre das nur dann, wenn meine Frau dadurch gerettet wird. Wenn nur noch 1 Platz im Rettungsboot frei ist und ich sage zu meiner Frau: Du gehst rein und ich bleibe hier. Ich sterbe, damit Du leben kannst. DAS wäre ein Liebesbeweis.

Der Theologe Gerhard Barth hat deshalb zurecht geschrieben:

„Das ‚für′ … muss … nicht immer und überall den Gedanken der Stellvertretung einschließen, sondern kann auch einfach besagen: ‚zugunsten von′. Wird freilich weiter darüber reflektiert, inwiefern sein Tod zu unseren Gunsten geschehen sei, kommt man doch auf den Stellvertretungsgedanken.“

Wovor werden wir gerettet?

Die Frage ist natürlich: Wovor werden wir denn durch den Kreuzestod Jesu gerettet? Im Römerbrief schreibt Paulus:

„Das Blut von Christus wurde für uns vergossen. Umso gewisser können wir sein, dass wir dann auch vor Gottes Zorn gerettet werden.“ (Römer 5,9)

Demnach ist es also der Zorn Gottes, vor dem wir gerettet werden müssen. Tatsächlich sehen wir im Römerbrief: Die Sündhaftigkeit der Menschen, die den Zorn Gottes hervorruft, ist die Grundlage, auf der Paulus das Evangelium entfaltet.

Mit dem Zorn Gottes tun wir uns heute allerdings ungeheuer schwer. Ist Gott nicht die Liebe? Wie passt das zu einem zornigen, richtenden Gott? Tatsache ist: Wer die Bibel liest, kommt am Zorn und am Gericht Gottes nicht vorbei. Auch wenn uns das vielleicht nicht schmeckt: Die Bibel ist voll davon! Denken wir an die Sintflut. Denken wir an Sodom und Gomorra. Denken wir an Gottes Gericht über Israel, an ihre Vertreibung in die ganze Welt. Und so geht es ja weiter im Neuen Testament: Jesus selbst hat immer wieder Gericht angekündigt. Und die Gerichtsankündigungen in der Offenbarung sind nicht weniger erschreckend als die Gerichtsankündigungen der Propheten im Alten Testament.

Natürlich ist Gott die Liebe. Aber die Bibel macht zugleich immer und immer wieder deutlich, dass unser Gott eben auch ein Richter ist. Er ist zwar langsam zum Zorn. Aber er ist auch kein Schwamm-Drüber-Gott, der endlos zusieht, wie wir Menschen uns gegenseitig quälen, berauben, belügen, mobben und zerstören. Gerade weil Gott die Menschen liebt ruft es seinen Zorn hervor, wenn wir so grausam und brutal mit seinen geliebten Menschenkindern umgehen.

Gott kann nicht wegschauen

Schauen Sie gerne Tatort? Ich und meine Frau sehen uns das immer wieder gerne an. Aber ich mag es nicht, wenn die Gewalt allzu explizit wird. Dann mache ich lieber die Augen zu und rufe mir ins Gedächtnis: Das ist alles nur Film. Das Blut ist nicht echt. Der ist nicht wirklich tot. Aber bei Gott ist das anders: Er kann nicht wegsehen. Da schwenkt die Kamera nicht weg. Die Grausamkeit ist echt. Er ist gerade jetzt live dabei in der Ukraine. Im Iran. Und in so vielen Häusern mitten in Deutschland, wo der Menschenhandel blüht. Wo Frauen und Kinder missbraucht werden. Wo Ungeborene abgetrieben werden. Er muss sich das alles live und in Farbe mit ansehen, was wir da tun. Er spürt die ganze Grausamkeit.

Glauben wir ernsthaft, dass ein Gott, der die Menschen liebt, da nicht zornig wird? Glauben wir ernsthaft, dass Gott da einfach sagt: Nicht so schlimm… Ich finde: Ein Gott, der angesichts der Gewalt auf der Erde nicht zornig werden würde, das wäre auch kein Gott der Liebe. Das wäre ein kalter, abgebrühter, gleichgültiger Gott. Aber beim Gott der Bibel ist das anders. Der Gott der Bibel ist kein netter Opa im Himmel, der unsere Verbrechen einfach weglächelt. Er ist ein heiliger Gott, ein verzehrendes Feuer. Er liebt die Menschen – und gerade deshalb hasst er die Sünde!

Deshalb geht es beim Tod Jesu am Kreuz eben nicht nur um den Menschen, sondern eben auch um Gott. Um seinen Zorn. Um seine Heiligkeit. Um seine Gerechtigkeit. Denn das macht die Bibel ja immer wieder klar: Das Unrecht, das auf dieser Welt geschieht, wird nicht einfach vergessen. Am Ende kommt alles noch einmal auf den Tisch. Der Tag des Gerichts ist real. Gott wird für Gerechtigkeit sorgen. Was für eine gute Nachricht für all die unterdrückten und bedrängten Menschen auf dieser Welt!

Wir hätten es allesamt verdient, verurteilt zu werden

Aber Gott wusste eben auch: Wenn er für völlige Gerechtigkeit sorgt, dann wird er am Ende jeden Menschen verurteilen müssen. Denn jeder Mensch ist verstrickt in Sünde, ausnahmslos. Jeder Mensch tut böse Dinge. Jeder Mensch schädigt andere Menschen. Das gilt nicht nur für schlimme Verbrecher. Das gilt auch für Dich und für mich. Deshalb musste Gott einen Weg zum Umgang mit unserer Sünde finden, der sowohl seiner Liebe und Gnade wie auch seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit entspricht. Er musste einen Weg finden, durch den wir leben können, ohne dass die Ungerechtigkeit unserer Sünde und seine Gerechtigkeit übergangen wird.

Und deshalb geht es beim Kreuz auf keinen Fall nur darum, dass unser menschliches Gewissen entlastet wird. Nein, das Kreuz hat auch etwas mit der Heiligkeit und mit dem gerechten Zorn Gottes zu tun, der hier am Kreuz in ein schreckliches Gerichtshandeln, in eine schreckliche Strafe mündet. Eine Strafe, die Jesus, der Sohn Gottes, selbst an unserer Stelle trägt. Jesus, und somit Gott selbst, erleidet die Strafe, die wir verdient hätten. Er stirbt den Tod, den wir hätten sterben müssen, damit wir das Leben haben. Oder um es noch einmal mit John Stott zu sagen:

„Das biblische Evangelium der Sühne ist, dass Gott sich selbst Genüge tat, indem er selbst an unsere Stelle trat.“Es ist ein und derselbe Gott, der uns durch Christus vor sich selbst rettet.“

DAS ist in wenigen Worten zusammengefasst die gute Nachricht vom erlösenden Kreuz.

Warum Jesu Kreuzestod kein Menschenopfer ist

Und damit ist übrigens auch klar: Natürlich ist dieser Tod am Kreuz kein Menschenopfer, wie manche behaupten. Denn Jesus von Nazareth war ja nun einmal nicht nur ein Mensch. Die Bibel macht klar: Er war zugleich auch ganz Gott. Gott opfert sich selbst am Kreuz. Und wer das versteht, der kann eigentlich nur noch anbetend auf die Knie fallen vor diesem unglaublichen Gott.

Warum ist das so wichtig? Was steht auf dem Spiel?

Warum brauchen wir diese Lehre von der Stellvertretung, vom Zorn und vom Gericht Gottes? Ist das nicht alles nur Streit um Worte? Verschrecken wir damit die Menschen nicht eher, als dass wir sie gewinnen? Warum kann das nicht jeder so sehen, wie er möchte? Sollten wir uns nicht lieber gemeinsam darauf konzentrieren, uns zu engagieren für die Menschen und für eine bessere Gesellschaft?

Das höre ich so oft: Lasst uns doch nicht um solche theologischen Fragen streiten. Wir wollen uns doch lieber engagieren für die Bewahrung der Schöpfung, für Flüchtlinge, für den Klimaschutz, für soziale Gerechtigkeit. Und ja, ich finde ja auch: Natürlich muss die Kirche einen Beitrag dazu leisten, dass diese Welt ein besserer Ort wird. Da sind wir uns völlig einig. Die Frage ist nur: Wie geht das? Wie können wir diese Welt wirklich nachhaltig verbessern?

Die erneuernde Kraft des Evangeliums steht auf dem Spiel

Und auf diese Frage hat das biblische Evangelium eine sehr radikale Antwort. Dieses Evangelium sagt: Das Herz der Probleme dieser Welt sind nicht die ungerechten Umstände, wie Karl Marx das fälschlicherweise angenommen hat. Das Herz der Probleme ist nicht das System. Es ist nicht der Kapitalismus, der Ungerechtigkeit hervorbringt. Das biblische Evangelium sagt: Das Herz des Problems ist das Problem unseres Herzens, das hoffnungslos in Sünde verstrickt ist. Es ist unser menschliches Herz, das alle diese Ungerechtigkeiten hervorbringt. Und genau damit konfrontiert uns das Kreuz! Es zeigt uns, dass wir Menschen so tief in Sünde verstrickt sind, dass ein anderer unsere Strafe erleiden muss, um uns zu retten. Das ist demütigend. Das holt uns herunter vom hohen Ross unserer Selbstgerechtigkeit. Und genau das ist so wichtig für uns! Denn wer noch auf dem hohen Ross sitzt, der braucht keine Umkehr. Der braucht keine Gnade. Der braucht keine Erneuerung des Herzens durch das Kreuz und durch den Heiligen Geist.

Genau in dieser Demütigung liegt das Geheimnis und die Kraft des Evangeliums! Ja, das Christentum hat eine weltverbessernde Kraft. Das kann man gerade in der Geschichte Europas sehr eindrucksvoll nachweisen. Aber diese Kraft des Evangeliums liegt eben nicht in moralischen Aufrufen, die Welt zu verbessern. Das Evangelium geht tiefer. Es geht an die Wurzel unserer Probleme. Das Evangelium tut das, was kein Politiker kann. Es zielt im Kern auf eine Erneuerung der Herzen. Und genau deshalb bleibt Theologie so fruchtlos, wenn sie nur auf moralische Weltverbesserung zielt. Was die Welt wirklich verändert, das ist dieses Evangelium, das die Sündhaftigkeit und die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen in den Blick nimmt. Wer das nicht glaubt, dem empfehle ich dringend zum Beispiel die Lektüre des „Buchs der Mitte“ von Vishal Mangalwadi. Echte Veränderung unserer Kultur und unserer Gesellschaft, echte Verbesserung der Lebensverhältnisse geschieht immer dort, wo das ganze biblische Evangelium ernst genommen und verkündigt wird.

Die Rechtfertigung aus Gnade steht auf dem Spiel

Aber das ist nicht der einzige Grund, warum mir dieses Thema so wichtig ist. Erst vor kurzem schrieb mir ein Pfarrer: Das sei doch Unsinn, dass Gott ein stellvertretendes Opfer braucht, um vergeben zu können. Gott kann doch einfach so vergeben. Er hat das doch auch immer wieder getan! Denk an Ninive! Die Menschen haben Buße getan, und das hat genügt. Da hat es kein Opfer gebraucht, um das Gericht Gottes über Ninive abzuwenden. Und das stimmt! In Hesekiel Kapitel 18 entfaltet der Prophet diese Wahrheit ganz ausführlich. Hesekiel sagt da: Wer Böses tut, wird gerichtet und muss sterben. Aber wer sich an Gottes Gebote hält, der wird leben. Und wer umkehrt und Buße tut und Gottes Gebote hält, der wird leben und nicht sterben. Da ist weit und breit nicht von Opfer und Sühne die Rede. Es stimmt also: Gott kann auch so vergeben, wenn wir Buße tun und uns an seine Gebote halten.

Das Problem ist nur: Wo landen wir, wenn wir das Evangelium auf diese Botschaft reduzieren und das Sühneopfer weglassen? Auch im Neuen Testament ist ja von Umkehr die Rede, von guten Werken, vom Halten der Gebote. „Lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe“, sagt Jesus. Und: „Wer mich liebt, der wird meine Gebote halten.“ Aber wie gut, dass das nicht die ganze Botschaft ist! Wie gut, dass die Forderung nach dem Halten der Gebote im Neuen Testament auf dem Fundament der Rechtfertigung allein aus Gnade steht. Wie gut, dass ich im Gericht nicht auf mein bußfertiges Herz und auf meine guten Werke zeigen muss, um bestehen zu können. Denn da wäre ich mir sicher: Meine guten Werke reichen nicht. Wie oft schon habe ich diese Gebote übertreten. Wie oft schon war ich eben nicht so bußbereit, wie ich hätte sein sollen! Und deshalb ist es so gut, dass ich stattdessen auf den zeigen kann, der meine Schuld und mein Versagen getragen hat. Und die ganze Bibel zeigt ja: Ich bin da nicht allein! Ninive war eine seltene Ausnahme. Die Regel ist: Wir Menschen scheitern an diesem Anspruch des Gesetzes.

Deshalb ist es so gut, dass ich nicht in meiner Gerechtigkeit vor den Richterstuhl treten muss, sondern dass ich die Gerechtigkeit anziehen darf, die Jesus durch sein stellvertretendes Opfer am Kreuz für mich erworben hat, weil er meine Schuld und meine gerechte Strafe getragen hat! „Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid. Damit will ich vor Gott besteh‘n, wenn ich zum Himmel wird eingehn.“ Das steht auf der Todesanzeige meiner Mutter. An diesem Vers will auch ich mich festhalten – im Leben und im Sterben. Was ein wundervolles, was für ein kostbares Evangelium!

Aber ich beobachte an so vielen Stellen: Genau dieses Evangelium geht verloren, wo das stellvertretende Sühneopfer verloren geht. Stattdessen kriecht die Werkgerechtigkeit wieder durch die Hintertür hinein in unsere Kirche. Da wird das Christentum wieder moralinsauer. Da wird der Glaube wieder zur Leistungsreligion. Und ich hoffe, es wird spätestens hier deutlich, wie entscheidend wichtig dieses Thema ist. Denn ohne die Rechtfertigung aus Gnade durch den stellvertretenden Opfertod Jesu landen wir bei einem therapeutischen und einem moralischen Evangelium, das die Menschen verbessern will, ohne die Herzen zu erneuern. Aber dann verpassen wir genau das, was auch Martin Luther schon so begeistert hat. Dann verpassen wir die Gnade. Und damit meine ich nicht diese billige Gnade, die heute überall umsonst verschleudert wird. Nein, ich meine die teure Gnade, die Jesus alles gekostet hat, und die in uns echten Jubel über unsere Erlösung auslöst. Wenn wir diese teure Gnade nicht mehr kennen, dann ist es kein Wunder, wenn in unseren Gottesdiensten zwar bei der Psalmlesung von Jauchzen und Jubel die Rede ist, aber die Atmosphäre eher zu einer Beerdigung passt. Wenn wir dieses biblische Evangelium verlieren, dann verliert die Kirche ihren allergrößten Schatz.

Die Einheit und die missionarische Dynamik steht auf dem Spiel

Und noch einen letzten Grund möchte ich nennen, warum dieses Thema so unglaublich wichtig ist: Die gemeinsame Botschaft geht uns verloren. Und damit auch die missionarische Dynamik. Ich will das am Ende noch einmal klarstellen, dass es hier nicht um theologische Feinheiten geht. Es ist nun einmal ein grundlegender Unterschied, ob…

… Gott uns einfach so vergibt oder ob er uns verurteilt, dann aber selbst die Strafe übernimmt.

… wir uns nur subjektiv schuldig fühlen oder ob wir objektiv schuldig sind und von Gott eigentlich im Gericht verurteilt werden müssten.

… Jesu Tod nur ein Akt der Solidarität und Hingabe war oder ein wirksames Opfer zur Vergebung unserer Schuld.

… wir nur belastete Menschen sind, die Zuspruch und Ermutigung bekommen sollen oder ob wir ohne das Kreuz verloren sind und Rettung brauchen.

Wir müssen es so deutlich sagen: Diese Differenz ist so grundlegend, dass es hier letztlich um ein anderes Evangelium geht. Und das ist dramatisch. Denn wenn wir uns beim Evangelium nicht einig sind, dann gibt es auch nichts mehr, was wir in der Kirche ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen können. Dann geht die Einheit und die Leidenschaft in unserer Kirche verloren. Dann hat die Kirche kein Profil. Dann wissen die Leute nicht, wofür die Kirche eigentlich steht. Und dann marginalisiert sich die Kirche. Genau das ist das riesengroße Problem, unter dem unsere Kirche heute leidet.

Dieses Problem gibt es nicht nur in den Landeskirchen. Ansgar Hörsting, der Präses des Bundes der Freien Evangelischen Gemeinden, sagt aus seiner reichen Erfahrung mit vielen Gemeinden im ganzen Land:

„Ich kenne keine missionarisch wirksame Gemeinde, in der es nicht Leute gibt, die klar auf dem Schirm haben: Ohne Jesus Christus sind Menschen verloren.“

Anders gesagt: Wenn unser Evangelium nicht mehr die Botschaft beinhaltet, dass wir ohne den Tod Jesu am Kreuz rettungslos verloren sind, dann ist ein entscheidender Teil unserer Evangeliumsbotschaft verloren gegangen. Und ich bin genau wie Ansgar Hörsting überzeugt: Die Kirchen leeren sich nicht, weil dieses Evangelium provokant, kantig und anstößig ist, sondern im Gegenteil: Die Kirchen leeren sich immer dann, wenn wir uns von diesem kantigen, rauen und anstoßerregenden Evangelium entfernen!

Das Evangelium: Die erfolgreichste Botschaft aller Zeiten

Dieses Evangelium hat noch nie dem Zeitgeist entsprochen. Schon Paulus selbst hat geschrieben: Dieses Evangelium ist den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit. Und trotzdem war dieses Evangelium die erfolgreichste Botschaft aller Zeiten. Es war dieses Evangelium, das damals das menschenverachtende römische Reich trotz massivster Widerstände überwunden hat. Es ist dieses Evangelium, das alle Kulturen erreicht, durchdringt und verändert, obwohl es bis heute weltweit verfolgt und unterdrückt wird. Ganz offenkundig stimmt es, was Paulus geschrieben hat: Wir brauchen uns dieses Evangeliums nicht zu schämen, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben. Dieses Evangelium hat rettende, heilende, befreiende und erneuernde Kraft. Dieses Evangelium ist der größte Schatz, den die Kirche Jesu hat. Wir sollten alles tun, um diesen Schatz zu hüten. Und wir sollten es gemeinsam mit Leidenschaft und Freude der Welt präsentieren.

Mehr zu diesem Thema inklusive vieler Quellenangaben:

Dieser Blog-Beitrag von Markus Till erschien zuerst auf aufatmen in Gottes Gegenwart . Lies hier den Original-Artikel "Die gute Nachricht vom erlösenden Kreuz".

Über Dr. Markus Till

Evangelisch landeskirchlicher Autor, Blogger und Lobpreismusiker mit pietistischen Wurzeln und charismatischer Prägung

7 thoughts on “Die gute Nachricht vom erlösenden Kreuz

  1. Wenn jemand nicht an Jesus als den Erlöser glaubt, dann nützen ihm auch die ganzen ausführlichen Bibelzitate und Bibelauslegungen nichts. Ohne den heiligen Geist kann man auch die heilige Schrift nicht richtig verstehen. Es geht am Ende also darum den Menschen den heiligen Geist beizubringen, nur mit noch so schlauen theologischen Reden und Erläuterungen wird das selten erreicht. Die Evangelischen sind meist zu sehr verkopft, aber die heutigen Katholiken, vor allem die Oberen ebenso. Jetzt was fehlt?

  2. —Thorsten Dietz: Es geht um eine Botschaft der Liebe. Es geht um eine Botschaft der radikalen Barmherzigkeit. Es geht um eine Liebeserklärung. Es geht darum, was man manchmal mit einem Blumenstrauß ausdrückt: Ein großes »Für Dich«! Ein großes „Ja“!“ —

    —Thomas Breuer: „Jesu Tod an sich ist sinnlos.“ „Erlösend ist nicht der Tod am Kreuz, erlösend ist allein die Liebe Gottes.“—

    Warum hat Gott denn dann Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben? Hätten da nicht Liebe und Barmherzigkeit gereicht?
    Was wäre wenn sie geblieben wären, dann hätte sich die Boshaftigkeit und die Zerstörung ausgebreitet, und der Himmel wäre zum Alptraum geworden.
    Thorsten Dietz spricht von Liebe, wie sieht die denn aus? Liebe für die Täter, und wie ist es mit der Liebe für die Opfer? Auch in der Welt kommen Täter vor Gericht, und Gott soll beide Augen zudrücken? Liebe ohne Gerechtigkeit ist blanker Hass.
    Gott braucht kein Blut, kein Opfer, …..hätte Gott Seinen Sohn dann nicht davor bewahrt einen sinnlosen Tod zu sterben, war Gott hier unbarmherzig? Also Gott hat Seinen Sohn der Sinnlosigkeit ausgeliefert, wo bleibt denn da die Liebe?
    Diese ganzen Behauptungen sind sowas vo wiedersprüchlich. Diese Denkweise hat mit der Bibel überhaupt nichts zu tun, es geht nur darum an Jesus als den Retter und Erlöser vorbei zu kommen.

    Danke Markus, sehr aufschlussreicher Artikel, gut erklärt.
    —Es zeigt uns, dass wir Menschen so tief in Sünde verstrickt sind, dass ein anderer unsere Strafe erleiden muss, um uns zu retten.—

    Wir sind nicht nur tief in Sünde verstrickt, wir sind auch Eigentum Satans, wenn wir die Erlösung nicht annehmen, auch daraus hat uns Jesus befreit.
    ,,Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, daß er die Werke des Teufels zerstöre“. 1.Joh 3. 8b

  3. Geht es um die liberale Theologie, die Worthaus und der Postevangelikalismus vertreten und die leider auch in den freikirchlichen Bünden um sich greift, trifft noch immer die Zusammenfassung von H. Richard Niebuhr zu:

    „Ein Gott ohne Zorn brachte Menschen ohne Sünde in ein Reich ohne Gericht durch den Priesterdienst eines Christus ohne Kreuz.“

    Neben vielen guten Gedanken, ermutigt immer wieder die Feststellung, dass allein das Kreuz die Veränderung schafft, auf die es ankommt – die des Herzens.

    Liebe Grüße

  4. Die theologischen verkopften Leute, egal wie sie heissen, müssen mir nicht die Liebe Gottes erklären. Jesus ist aus LIEBE für alle Menschen ans Kreuz gegangen, um uns mit Gott zu versöhnen. Wer das nicht kapiert, der hat nichts kapiert. Ja, mit dem Verstand kann ich das auch nicht verstehen, aber mit einem offenen, erleuchteten und vom heiligen Geist berührten und bewegten Herzen schon. Daran aber fehlt es vielen Theologen, die mit stundenlangem Geschwätz ihr Geld verdienen, aber den Menschen keine geistliche Hilfe bieten können. Diese hochmütigen Theologen müssen sich eines Tages vor dem grossen Gott beugen, wenn nicht zu ihren Lebzeiten, dann aber spätestens nach dem Tode, dann ist es aber zu spät.
    Gerhard Tersteegen hat das verstanden, sonst hätte er nicht entsprechende Lieder dichten können.

    https://gloria.tv/post/bjiFKpYzdmyf4bb4gGEn69pAY#5

  5. Auf den ersten Blick scheint eigentlich fast alles richtig zu sein. Diese Grafik mit den bunten Linien habe ich doch schon mal in einem älteren Artikel von dir gesehen. Ist das hier ein Aufguß desselben?
    Was Dietz scheinbar meint: Ein Satz, demzufolge durch das Kreuz Gott versöhnt mit den Menschen wurde, scheint es in der Bibel nicht zu geben. Die Formulierungen mit „Versöhnung“ sagen immer, daß die Menschen mit Gott versöhnt wurden.
    Die schönste Variante der Evangeliumsverkündigung: https://www.youtube.com/watch?v=NS3OgXaHoyc
    Alles Gute!

  6. Die vielen verschiedenen Bilder zum Erlösungswerk Christi lassen sich in eine wirklich leicht zu verstehende Systematik bringen. Mehr dazu in: Tobias Henninger: Was ist Erlösung?, tredition 2021, Kap. 4.7 Backbone für viele Bilder. Man muss dazu allerdings von der Anselmschen Satisfaktion abrücken. Sühne dient nur zur Abwendung von Zorn, nicht zu dessen Ausgleich.
    Gruß Tobias

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