Jonas (J): Hallo Ellis, danke für deine Bereitschaft zu einem Interview. Kannst du unseren Lesern etwas zu deinem persönlichen Hintergrund erzählen? Auf deiner Homepage habe ich gelesen, dass du ein früherer Mönch im Zen-Buddhismus warst. Wie kamst du da nach L’Abri?
Ellis (E): Ja, ich wuchs in Kalifornien in einer christlichen Familie auf. Und dann begann ich, Fragen zu stellen, welche die Christen nicht beantworten konnten. So dachte ich, dass der christliche Glaube nicht wahr sei. Ich war an den Absoluta des Lebens interessiert und wollte wissen, wie hoch es nach oben geht, wie fern die Ferne geht. Was kommt am Ende des Universums? Die Christen in meiner Umgebung konnten das nicht beantworten. Inzwischen habe ich Christen getroffen, die von der Bibel her Antworten darauf aufzeigen können. Doch damals konnte mir das niemand erklären. So begann ich umherzuschauen, ob irgendwer an den Absoluta des Lebens interessiert war, und ich fand heraus, dass die Zen-Buddhisten sich darüber Gedanken machten. Deshalb las ich einige Bücher über den Zen-Buddhismus und begann zu meditieren und besuchte ein Zen-Kloster in Los Angeles. Nach einer Weile fand ich ein näher gelegenes Kloster in den Bergen, das ich häufiger besuchen konnte. Mit etwa 25 Jahren habe ich dann alles zurückgelassen, alles verkauft und begann im Kloster zu leben. Das Leben im Kloster war sehr streng und diszipliniert. Nach und nach begann ich zu reisen und habe verschiedene Kloster besucht. Irgendwann kam ich auf diesen Reisen nach Europa. Ein Freund, den ich noch aus Kalifornien kannte, reiste mit mir, ein Christ, und wir besuchten verschiedene Kloster. Damals dachte ich, mein Ziel sei Japan, das Zentrum des Zen-Buddhismus. Dieser Freund wollte nach L’Abri, was ich nicht kannte. Er erzählte mir: Das ist eine Gemeinschaft von Christen, die denken. Ich sagte nein, das konnte ich nicht glauben. Als wir zusammen da waren, mochte ich L’Abri überhaupt nicht. Es war alles laut und geschäftig, mit Kindern und Hunden, und die redeten während sie aßen. Ich war das anders gewohnt. Im Kloster ist es ruhig, leise. So ging ich weiter nach Italien, wo ich Tee-Zeremonien kennenlernte. Und Tee, den ich heute noch trinke. Doch nach vier Monaten hatte ich genug von meinen Versuchen, Italienisch zu sprechen und vermisste meinen Freund. So kam ich nach L’Abri zurück.
Bekehrung
J: Und dort hast du dich dann bekehrt?
E: Ja, ich wurde dann dort Student und studierte den Römerbrief durch Vorlesungen, die Schaeffer auf Tonband aufgenommen hatte. Und dann wurde ich Christ. Zum Teil gegen meinen Willen. Ich wollte nicht Christ werden, denn die Christen, die ich kannte, mochte ich nicht besonders. Aber der christliche Glaube wurde überzeugend. Der wichtigste Grund, weshalb ich Christ wurde, war, weil er mir klar wurde. Es braucht weniger Glauben, um an den christlichen Gott zu glauben als an irgend etwas anderes. Eines Abends las ich Schaeffers Buch „Escape from Reason“, und als ich vom Buch aufschaute, hatte das ganze Universum seine Form geändert. Alles hatte einen neuen Fokus. Das war das Wirken des Heiligen Geistes in meinem Leben. Es war eine Mischung aus Logik, Gnade und Gottes Wirken, die mich vom christlichen Glauben überzeugt haben.
J: Das finde ich spannend. Bei einigen Personen, die sich in L’Abri bekehrt haben, las ich, dass auch die Gemeinschaft, das gemeinsame Leben, Gebet, und so weiter etwas war, was sie auch mit überzeugt hat. Wie war das bei dir?
E: Ja, die Gemeinschaft ist ein wichtiges Element von L’Abri. Es ist eine einmalige Art von Gemeinschaft, denn es ist kein Kloster, keine Kirche oder Gemeinde, keine akademische Institution. L’Abri hat sich als Mission gesetzt, eine Zuflucht für alle zu sein, die Zuflucht brauchen. Es ist eine offene Gemeinschaft innerhalb der Grenzen des vorhandenen Platzes. Jeder, der kommt, ist willkommen. Es gibt keine Voraussetzungen, kein Anmeldeformular, kein Ziel, wie die Gemeinschaft geformt werden soll. L’Abri lebt vom Gebet. Eine Art extremes Glaubenswerk. Wenn du in L’Abri mitarbeitest, darfst du keine Spendenaufrufe machen, keine Werbung. Es wird gebetet und auf Gott gewartet. Jeder, der an die Türe klopft, wird als jemand betrachtet, den Gott gesandt hat. Egal, wie alt oder jung jemand war, wie gebildet oder ungebildet. Jeder, der herein kommt, bestimmt durch seine Anwesenheit mit, wie sich L’Abri weiter entwickelt. In gewisser Weise ist L’Abri sehr passiv. Andere Werke haben einen Plan, wie sie sich entwickeln wollen. L’Abri hat keinen Plan. L’Abri ist unstrategisch. Diese Art von Gemeinschaft war für viele Menschen etwas ganz Besonderes. Für mich war Gemeinschaft insofern nichts Neues, da ich aus Klostern schon Ähnliches kannte. Aber für viele war das eindrücklich. Was mich mehr beeindruckt hat, war die Bibel und die tiefe pastorale Fürsorge der meisten Mitarbeiter.
Schaeffer und das 21. Jahrhundert
J: Eine andere Frage: Man hört ja häufig, dass Francis Schaeffer eine prophetische Stimme war, die vieles von dem vorhersah, was inzwischen eingetreten ist oder sich verstärkt hat. Was würdest du dazu sagen?
E: Ja, Francis Schaeffer war sich in der westlichen Kultur sehr bewusst, was um ihn herum ablief. Er konnte Tendenzen sehen, wie sich vieles weiter entwickeln würde. Ein Thema, das er immer wieder ansprach, war die westliche Suche nach dem persönlichen Frieden und Wohlstand. Dass der Hauptpunkt des Lebens sich immer mehr dorthin verlagert, wie es mir geht, mein Selbstbewusstsein, mein psychischer Zustand, meine Stabilität. Alles dreht sich immer mehr um mich selbst. So gibt es weniger Ehen, weniger Familien, weniger Gemeinschaft, und die Gemeinden sind geschwächt und verschwinden, weil der Fokus immer mehr auf das Ich gelegt wird anstatt auf den Anderen. Und ich denke, das war das Zentrale, was Schaeffer sah.
J: Ja, das sehe ich auch immer mehr zunehmen. Was denkst du, wenn die Familie Schaeffer heute, im 21. Jahrhundert in die Schweiz ziehen würden um ein Werk aufzubauen, würden sie etwas anders machen als damals?
E: Ich denke, dass sie im großen Ganzen dieselbe Arbeit aufbauen würden. Allerdings wäre der Zustand der Menschen, die kämen, ein ganz anderer. In der Zeit, als ich in L’Abri mitarbeitete, hatten wir zu einem Zeitpunkt mehrere Menschen mit psychischen Problemen. Es war sehr schwierig zu der Zeit, sie haben die Gemeinschaft etwas gestört und wir waren nicht genügend qualifiziert um mit manchen der Probleme umzugehen. So haben wir uns als Mitarbeiter darüber unterhalten, wie wir damit umgehen sollten. Sollten wir uns schützen, indem wir Schranken aufrichten? Schaeffer sagte etwas, das uns alle schockierte. Er sagte: Wenn uns der Herr nur noch die psychisch Kranken herschickt, dann ist das unsere Aufgabe. Aber wir beteten viel für diese Situation, und ich glaube nach wie vor, dass Gott uns da arg beschützte und dafür sorgte, dass wir nicht überfordert wurden. Dennoch waren fast alle, die kamen, in irgend einer Krisensituation. Menschen mit Veränderungen im Leben. Mit Entscheidungen, die sie treffen mussten. Jüngere Menschen, die gerade ihr Abitur abgeschlossen hatten und mit Fragen kamen, die ihre Eltern und Pastoren nicht beantworten konnten. Menschen, die nach der Schule nicht wussten, welchen Beruf sie wählen sollten. Menschen, die herausfinden mussten, ob der christliche Glaube wirklich wahr ist. Oder Menschen in ihren 40ern und 50ern, die ihre Kinder groß gezogen hatten und sich nun fragten: Was soll ich jetzt? Was ist jetzt der Sinn meines restlichen Lebens? Manche kamen mit Krisen unter der Fassade, die erst einmal nur etwas studieren wollten. Und dann nach drei oder vier Wochen in der Gemeinschaft kamen dann die richtigen Krisen plötzlich zum Vorschein.
Die Botschaft der Schaeffers
J: Nun haben die Schaeffers doch ein paar Bücher geschrieben. Ich kenne die große Gesamtausgabe der Werke von Francis in den fünf Bänden. Aber das ist für manche Leser etwas einschüchternd. Was wäre ein guter Einstieg oder eine gute Reihenfolge für junge Leser?
E: Das kommt sehr stark auf die Personen an. Wer sind sie? Was ist ihr Hintergrund? Akademisch oder nicht? Geht es um die Diskussion von philosophischen Ideen? Brauchen sie mehr ein pastorales Buch? Darauf kommt es an. Vielleicht „Gott ist keine Illusion“ oder „Und er schweigt nicht“. Und dann würde ich die Bücher von Edith Schaeffer mit einbeziehen. Wenn die Person etwa eine schwierige familiäre Situation hat, oder sich unsicher fühlt oder orientierungslos ist, würde ich Bücher von Edith Schaeffer zu Beginn empfehlen. Ihr Buch „L’Abri“ erzählt die Geschichte der Gemeinschaft. Bis etwa zu ihrem 70. Geburtstag hat sie noch geschrieben. Über viele Themen: Familie, Musik, Kunst.
J: In unserer Zeit hört man ja immer wieder von bekannten christlichen Pastoren und Leitungspersonen, die Vorbilder für viele waren und plötzlich gibt es Skandale, dass sie in Sünde gefallen sind, dass sie Fehler vertuscht haben. Gibt es aus dem Fundus der Schaeffers ein Hilfsmittel, wie man damit am besten umgeht?
E: Ja, da gibt es oft einen extremen Fokus auf bestimmte Menschen, die im Rampenlicht stehen. Dieser Fokus verzerrt eigentlich die Vision des ganzen und ganzheitlichen Christenlebens, wenn alles auf den sichtbaren Bereich dieser Personen gerichtet ist. Man ist heute so stark auf diese einzelnen Personen fokussiert und dann brechen plötzlich Gemeinschaften zusammen. L’Abri war über 60 Jahre lang auf eine relativ kleine,m ruhige Art aktiv. Der Fokus ist nicht auf die bekannten Studenten und Mitarbeiter gerichtet, sondern darauf, in Gemeinschaft und Gastfreundschaft zu dienen. Diese Prinzipien haben sich über die Jahrzehnte nie geändert. Es beginnt immer an der Basis. So ist L’Abri ganz etwas anderes als eine Bewegung.
J: Vielen Dank. Gibt es zum Abschluss unseres Interviews noch etwas Besonderes, was du auf dem Herzen hast, was du mit unseren Lesern teilen möchtest?
E: Ich möchte nichts von mir persönlich teilen, weil ich denke, das ist nicht wichtig. Aber einen Gedanken möchte ich mitgeben. Schaeffer war es immer wichtig, vom Gott zu erzählen, der nicht schweigt. Der Gott, der spricht. Gott spricht in Worten. Und Schaeffer legte großen Nachdruck darauf, dass Gott die Wahrheit klar und lebendig spricht. Und ich sehe, dass dies in unserer Kultur und im christlichen Leben immer weniger betont wird. In all meinen Büchern, Reisen und Vorlesungen versuche ich das weiterzugeben: Wahrheit sprechen und verstehen und unterstützen was wir sagen, anstatt nur Plattitüden und ein paar auseinandergerissene Teile der Bibel zu zitieren. Das ist ein Teil von Schaeffers Werk, was ich feststelle. Ich sehe, dass es immer notwendiger wird, weil wir sonst immer mehr in ein Chaos und Dunkelheit fallen. Das ist es, wozu ich Menschen ermutigen möchte: Übernehmt Verantwortung für was ihr sagt und hört sorgfältig zu. Fragt immer wieder: Was meinst du wirklich damit?, sodass eine echte Verbindung entstehen kann. Das Erste, was wir von Gott wissen in der Bibel ist, dass Er spricht. Und da greift auch der Teufel an und attackiert uns und bringt unsere Sprache durcheinander. Er verstümmelt sie, macht sie unklar, unwahrhaftig und unverbindlich. Und dann werden wir immer weniger wie Gott. Denn Gott ist immer ganz klar und verbindlich und übernimmt die Verantwortung und alle Konsequenzen für das was er sagt. Das wäre meine Botschaft an die Welt. Danke!
J: Vielen Dank für das Gespräch!
Ellis H. Potter war viele Jahre Mitarbeiter in L’Abri und später Pastor in Basel. Er hat einen Reisedienst und ist Autor mehrerer Bücher. Seine Homepage (englisch) ist hier zu finden (Link)
Der Beitrag Interview mit Ellis Potter über Francis Schaeffer und L’Abri erschien zuerst auf Jonas Erne – Blog.
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