Gott und das Leid – Versuch einer Theodizee

Einleitung

Georg Büchner bezeichnete die Frage nach dem Leid in der Welt als den „Fels des Atheismus“. Die Erfahrung von Leid, besonders unerklärliches und persönlich unverschuldetes, dient dem Atheismus als Hauptargument gegen den Theismus und wird sehr häufig sowohl auf akademischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene vorgebracht. Man könnte sogar fast sagen, dass das Leid in der Welt zum „Glücksfall“ für den Atheismus geworden ist, denn es wird unentwegt als eine Art Anti-Gottesbeweis verwendet.

In diesem Artikel möchte ich nicht eine grundsätzliche Antwort auf den Atheismus vorbringen und Beweise oder Argumente für die Existenz Gottes darlegen, dies kann lediglich ein beabsichtigter Nebeneffekt sein. Ich möchte mich aber dem Thema des Leides, allgemeiner gesprochen des Übels, in der Welt widmen und die These vertreten, dass das Übel in der Welt kein starkes Indiz gegen die Existenz Gottes ist, nicht einmal überhaupt ein Indiz ist. Ich argumentiere dabei nicht aus einer allgemein-theistischen Sicht, sondern auf Grundlage des christlichen Glaubens.

Doch sehen wir uns zunächst die Argumentation des Atheismus anhand der allgemeinen Formulierung von William L. Rowe an:

„(1) Es gibt Fälle von starkem Leiden, die ein allmächtiges und allwissendes Wesen verhindern haben könnte, ohne dabei ein größeres Gut zu verlieren oder ein gleich großes oder schlimmeres Übel zuzulassen.

(2) Ein allwissendes, vollkommen gutes Wesen würde das Vorkommen jedes starken Leidens verhindern, das es verhindern kann, es sei denn, es könnte das nicht, ohne ein größeres Gut zu verlieren oder ein gleich großes oder schlimmeres Übel zuzulassen.

(3) Es gibt kein allmächtiges, allwissendes und vollkommen gutes Wesen.“[1]

Die Definition von Gott, die uns gegeben wird, lautet also, dass er ein allmächtiges, allwissendes und vollkommen gutes Wesen ist. Jegliche Versuche Gott in seiner Souveränität oder Macht zu begrenzen, würden letztlich einer anderen Argumentation bedürfen, sich aber nicht mehr gegen den Gott des Christentums richten, da im christlichen Verständnis Gott der allmächtige Schöpfer ist und keiner Begrenzung unterliegt, sofern sie logisch möglich ist.

Auch wenn die völlige Souveränität Gottes sowie seine Allmacht zunehmend innerhalb der Theologie in Frage gestellt und teilweise offen bestritten wird, vor allem seit der sogenannten „Holocaust-Theologie“ oder auch „Theologie nach Auschwitz“, unter anderem von Vertretern wie Johann Baptist Metz, Dorothee Sölle und Armin Kreiner, so bezeichnet das apostolische Glaubensbekenntnis den dreieinen Gott jedoch als allmächtiges Wesen, Schöpfer, Erhalter und Vollender dieser Welt und auch Jesus Christus nimmt für sich als auferstandener Herr in Anspruch, dass er alle Macht im Himmel und auf Erden hat (Mt 28,18).

Der Angriffspunkt des Atheismus wendet sich also explizit an ein solch souveränes Gottverständnis und lautet, dass die Existenz von Übel in der Welt nicht mit der Liebe Gottes vereinbar ist, denn ein Wesen mit solch unbegrenzter Macht würde, sofern es vollkommen gut und damit der Inbegriff von Liebe ist, seinen Einfluss nutzen, um das Übel zu verhindern.

Inzwischen wird allerdings von atheistischen Vertretern eingeräumt, dass die Absolutheit dieser logischen Argumentation sich nicht halten lässt, da wir Menschen nicht alle Eventualitäten ausschließen können und insbesondere die Annahme, dass das Übel inkompatibel mit der Existenz ist, die Voraussetzung für die Prämisse (1), sich nicht beweisen lässt.[2] Daher wird häufig als Ausweg eine probabilistische, eine auf Wahrscheinlichkeit basierende Form des Argumentes gewählt mit dem Fazit: „Es gibt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Gott.“[3]

Wie ist dieser Argumentation zu begegnen und wie lässt sich die These begründen, dass das Übel in der Welt kein Indiz gegen die Existenz Gottes ist? Dazu muss, um der Klarheit willen, zwischen moralischem und natürlichen Übel unterschieden werden.

 

Moralisches Leid

Wenn moralisches Leid als Argument angeführt wird, so verwenden Atheisten sehr emotionale Beispiele wie die Vergewaltigung einer Frau, ein verhungerndes Kind oder der heimtückische Mord an einem Unbeteiligten. Solche Beispiele dienen natürlich dazu die Prämisse (1) möglichst stark zu untermauern, dass es Fälle von so starkem Leid gibt, die ein liebendes und allmächtiges Wesen nicht verhindert oder zumindest stark abgemindert hätte ohne dabei ein höheres Gut, also einen größeren Wert zu verlieren. Mit solchen Beispielen wird die Sinnlosigkeit von Leid ganz stark ins Zentrum gerückt und darauf verwiesen, dass das Übermaß an Leid und Übel in der Welt unvereinbar mit dem Theismus ist.

Auf den ersten Blick erscheint eine solche Argumentation natürlich sehr überzeugend und gerade durch die stark emotional aufgeladenen Beispiele lässt sich kaum darauf reagieren. Jeder, der versucht eine rationale Antwort auf eine emotionale Argumentation zu geben, wird sofort von allen Beteiligten als hartherzig, engstirnig oder geistig umnachtet angesehen und verurteilt. Dies macht die Diskussion und logische Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Übel so schwierig. Denn es ist eine Sache, sich emotional damit zu beschäftigen, Betroffenen beizustehen, Seelsorge zu leisten, praktische Hilfe zu tätigen oder das Übel als das stehen zu lassen, was es schlicht und einfach ist: Übel. Leid, Kummer und der Tod sind per Definition Zustände, in denen Menschen hilflos und einsam sind und in denen ihnen zunächst keine sachliche Erklärung hilft. Ganz im Gegenteil: In solchen Momenten brauchen sie menschliche Nähe, praktische und seelische Hilfe und Beistand. Wer einem Leidenden sofort mit einer sachlichen Argumentation begegnet, wird in der Tat zu Recht nicht verstanden und abgelehnt.

Doch so sehr die emotionale Unterstützung ein notwendiges Gebot der praktischen Nächstenliebe ist, so sehr ist es eine andere Sache sich auch logisch mit der Existenz von Übel, auch dem moralischen Übel in der Welt, auseinanderzusetzen. Auch dem von Leid Betroffenen selbst wird recht schnell die Frage nach dem Ursprung des Leides und seinem Sinn kommen. Zum Beispiel sind nach Amokläufen sehr schnell die Schilder und Posts mit der Warum-Frage zu sehen.

Wenn wir uns auf einer sachlichen Ebene dem moralischen Übel nähern, so fällt deutlich auf, dass unsere westliche, säkulare Gesellschaft immer schlechter damit umzugehen weiß. Es scheint ein Phänomen des 21. Jh. zu sein, das sich aber bereits seit vielen Jahrzenten zunehmend gebildet hat, nämlich das „Leid des Wohlstandes“. In den westlichen Gesellschaften ist der Wohlstand zunehmend gewachsen, spätestens seit dem letzten Krieg auf europäischen Boden hat er so weite Teile der Bevölkerung erreicht, dass selbst die untersten Schichten um ein vielfaches besser leben als die Mittelschicht vor 100 oder 150 Jahren. Der technische Fortschritt hat Luxus zum Allgemeingut gemacht. Doch aus diesem Wohlstand folgt nicht allgemeine Zufriedenheit, Dankbarkeit und Sinn. Auch wenn empirische Untersuchungen über diese Themen wegen der notwendigen Subjektivität immer sehr zweifelhaft und nur begrenzt in ihrer Aussage sind, so lassen sich doch aus Untersuchungen wie dem Happy Planet Index[4] oder dem Better Life Index der OECD[5] herauslesen, dass die Zufriedenheit offensichtlich nicht im Gleichschritt mit dem Wohlstand wächst. Die subjektiv glücklichsten Menschen kommen, anhand dieser Untersuchungen, aus Ländern wie Costa Rica, Mexiko, Kolumbien, Vanuatu und Vietnam. Aber auch wenn wir in unserem Land einige Jahrhunderte zurückschauen, finden wir Beispiele für sehr glückliche, zufriedene und dankbarbare Menschen- trotz großem Leid. Als Beispiel könnte man den lutherischen Pfarrer Paul Gerhardt anführen, der trotz dem Tod seiner Eltern in seinem 12. bzw. 14. Lebensjahr, dass dazu später vier seiner fünf Kinder nicht überlebten und früh starben und er immer wieder mit Arbeitslosigkeit und Armut zu kämpfen hatte, Freudenlieder wie „Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit“ sowie Trost- und Hoffnungslieder wie „Befiehl du deine Wege“ geschrieben hat.[6] Es scheint so, je wohlhabender und säkularer Menschen sind, umso schlechter können sie mit Leid umgehen und umso mehr suchen sie nach Sinn und Hoffnung. Wenn sie dann mit moralischem Leid konfrontiert werden, folgt häufig aus Hilflosigkeit der Nihilismus, der sich aus dem Atheismus ergibt. Ältere und religiösere Gesellschaften und Kulturen haben dagegen stets einen Sinn im Leid zu erkennen und es aktiv zu gestalten gesucht.

Aber kehren wir zur Grundfrage zurück: Warum soll die Existenz von moralischem Übel gegen die Existenz Gottes sprechen? Es kann umgekehrt ebenso angenommen werden, ja es erscheint logisch und viel vernünftiger, Leid und Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren und es aktiv zu gestalten. Die Würde des Menschen liegt ja nicht darin, dass er gesund, glücklich und zufrieden ist, sondern die Würde eines jeden Menschen liegt ja gerade in seinem Menschsein, in seinem Wesen, seiner Existenz. Dieses Leben wurde uns gegeben, niemand ist sein eigener Schöpfer und kann sich selbst setzen. Es ist eine Anmaßung darüber urteilen zu wollen, welches Leben lebenswert ist und welches nicht, denn gerade in einem solchen Urteil wird vielen ihre Würde entzogen.[7] Zu diesem, uns gegeben, Leben gehört neben Zeugung, Geburt, Wachstum und Blüte auch der Niedergang, Brüche und schließlich der Tod. Alles ist ein vollwertiger Teil des Lebens und jede Phase will gestaltet werden. Wenn dies nicht akzeptiert wird, so kann die persönliche Erfahrung von moralischem Übel einem die letzte Würde rauben, da nun nach scheinbar allgemeinen Kriterien das eigene Leben weniger, evtl. sogar überhaupt nicht mehr lebenswert beurteilt wird. Gerade dies wäre die aufs äußerste liebloseste und inhumane Reaktion, wenn wir einem Leidenden noch dadurch die Würde rauben, indem wir ihm nicht helfen in seinem Leid einen Sinn zu suchen und seine Situation aktiv zu gestalten. Anstatt Menschen in den Nihilismus und die Verzweiflung zu stoßen, ist es gerade wichtig, sie auf dem Weg der Suche nach einem Sinn und Umgang mit dem Leid zu begleiten. Wenn es aber möglich ist einen Sinn im eigenen Leid zu finden, dann unterterminiert dies die Prämisse (1) und bringt die ganze Argumentation des Atheismus zum Kollabieren, denn dann gäbe es ein höheres Gut, weshalb Gott das Leid nicht verhindert haben könnte.

Noch ein weiteres Argument spricht gegen die Prämisse (1), nämlich die Verantwortung des Menschen für sein Handeln. Richard Swinburne hat dieses Argument so formuliert: „Die Freie-Willens-Theodizee behauptet, daß es ein großes Gut ist, daß Menschen eine bestimmte Art von freiem Willen haben, die ich die freie und verantwortungsvolle Wahl [free and responsible choice] nenne, daß sich dann aber notwendigerweise die natürliche Möglichkeit von moralischem Übel ergibt.“[8] Dieses Argument versucht deutlich zu machen, dass Gott deshalb die Existenz des Übels nicht verhindert, weil es ein größeres Gut gibt, das zu schützen er es wert erachtet. Dieses Gut liegt begründet in der Würde des Menschen, die aus seiner geschöpflichen Ebenbildlichkeit heraus entsteht und ihn in eine Form der Freiheit stellt, Handlungen zu tun oder zu unterlassen. Wenn es die Möglichkeit für freie Handlungsentscheidungen gibt, so folgt daraus auch echte Verantwortung für diese, eingeschlossen den positiven oder unter Umständen negativen Folgen der jeweiligen Entscheidung. Durch diese Freiheit ist der Mensch aber in der Lage, seine Freiheit zu missbrauchen und sich selbst und anderen Leid zuzufügen und somit schweres Übel in die Welt zu bringen. Gott könnte dieses Leid zwar selbstverständlich verhindern, die Konsequenz wäre jedoch jede freie Handlung von Menschen von Anfang an zu unterbinden. Der Ausweg, dass Gott ja lediglich den Missbrauch verhindern könnte, scheitert daran, dass mit dem Ausschluss des Missbrauches auch jede andere Handlung faktisch zu einer gesetzten Handlung wird, also nicht mehr frei ist. Nun ist es müßig darüber zu diskutieren, ob Gott auch eine andere Welt hätte schaffen können, in dem dieses Dilemma nicht bestünde. Es bleibt bestehen, dass es die Möglichkeit gibt, dass Gott die Handlungsfreiheit des Menschen als ein höheres Gut ansieht und daher die Existenz von (schweren) Übel in der Welt nicht verhindert.

Mit beiden Argumenten zuvor verbunden ist auch noch ein weiteres Argument, das die Prämisse (1) für falsch erklärt und ein weiteres größeres Gut aufzeigt. Nämlich ist mit der Handlungsfreiheit des Menschen auch eine Verantwortung zur Reaktion von ihm gefordert, die Gott als erhaltenswert ansehen könnte. Die Existenz von Übel fordert den Menschen ja dazu heraus wie er sich dazu verhält. Sowohl als Betroffener als auch als zunächst externer Beobachter steht der Mensch in der Herausforderung, ob er in der Passivität verharrt und sich dem Leid, der Anklage (an wen oder was auch immer) oder dem Selbstmitleid hingibt, oder ob er aus dem Erlebten Konsequenzen zieht. Solche Konsequenzen führen zu einer Veränderung in der eigenen Grundeinstellung, den Werten, bis hin tief hinein die die eigene Persönlichkeit. Die aktive oder passive Erfahrung von Leid und Übel führt häufig zu einer außerordentlichen Bildung des Charakters sowie einer äußerst hohen Motivation zur Hingabe. Menschen, die selbst viel Leid erfahren haben, aber nicht dem Drang des Selbstmitleides erlegen sind, sondern sich für das Leben und die Suche nach dem Sinn entschieden haben, haben eine besondere Ausstrahlung und lösen eine Faszination aus. Als Beispiel unter vielen kann hier Nicholas James Vujicic angeführt werden, ein Australier, der 1982 auf Grund des Tetra-Amelie-Syndroms ohne Arme und Beine geboren wurde, aber trotzdem weltweit als Motivationstrainer und christlicher Evangelist arbeitet und Menschen inspiriert.[9] Umgekehrt kann ebenso die Existenz des Übels andere Menschen, die nicht unmittelbar davon betroffen sind, dazu herausfordern, wie sie auf das Leid reagieren. Auch daraus kann sehr viel Gutes entstehen, sowohl an praktischer Hilfe als auch an Charakterbildung für unmittelbar Betroffene, als auch für die Helfer. Hierfür kann man exemplarisch die im hallischen Pietismus entstandenen „Franckesche Stiftung“ von August Hermann Franke 1698[10] oder das „Rauhe Haus“ anführen, das von dem Theologen Johann Hinrich Wichern 1833 gegründet wurde.[11] Hier entstanden große Diakonische Werke, die viel Segen zu den Menschen gebracht haben, eben gerade nicht nur in unmittelbarer Nothilfe, sondern einer langfristigen Persönlichkeitsbildung und wertfundierten Prägung. Solche Beispiele zeigen, dass durch die Existenz des Übels, im Leid Werte und Persönlichkeitsbildung entstehen können, die es zu schützen wert sind und somit gegen die Prämisse (1) des Argumentes gegen die Existenz Gottes sprechen.

 

Natürliches Leid

Nach diesen Argumenten, die sich vor allem auf moralisches Leid beziehen und sogenannte größere Güter aufzeigen, die Gott dazu veranlassen könnte das Vorkommen von Übel in der Welt nicht zu verhindern, folgt meist recht schnell die Argumentation mit dem natürlichen Leid. Der Unterschied ist, dass viele Atheisten auf die vorherigen Argumente der Würde des Lebens und Sinnsuche, der Verantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und den Wert der Charakterbildung als Güter sich auf das Vorkommen von natürlichem Übel zurückziehen, also zum Beispiel Naturkatastrophen, für die sich keine menschliche Beeinflussung in der Ursache erkennen lassen. Wobei hier sofort einzuwenden ist, dass es durch wissenschaftliche Erforschung immer weniger möglich ist, reine Vorkommen von natürlichem Leid anzuführen, denn auch viele Naturkatastrophen lassen sich inzwischen in Verbindung bringen mit menschlichen Handlungen und der damit verbundenen Verantwortung. So können zum Beispiel Erdbeben ausgelöst sein durch den Bergbau, kontaminiertes Wasser durch Umweltverschmutzung, Überschwemmungen durch Flussbegradigungen oder den Klima-wandel. Ein bekanntes Beispiel für ein reines natürliches Leid wurde von Rowe mit dem Rehkitz angeführt, das bei einem (durch Blitzschlag ausgelösten) Waldbrand in Agonie verfällt und mehrere Tage hindurch langsam verbrennt, bevor der Tod es schließlich von seinem Leid erlöst. Rowe folgert: „Ein allmächtiges, allwissendes Wesen würde es leicht verhindern können, dass das Rehkitz schrecklich verbrannt wird, oder es hätte, wenn die Verbrennungen eingetreten wären, dem Rehkitz die starken Schmerzen ersparen können, indem es sein Leben schnell beendet hätte, statt es mehrere Tage in schrecklicher Agonie liegen zu lassen.“[12]

Entgegen der Überzeugung von Rowe, dass es keine größeren Güter geben könnte, die mit dem Leid des Rehkitzes verbunden werden könnten[13], kann jedoch auch hier nochmal auf die vorherigen Argumente „Verantwortung des Menschen“ sowie die „Charakterbildung“ hingewiesen werden. Auch wenn das Leid des Rehkitzes zweifelslos schrecklich ist, so entstanden gerade aus solchen Beispielen heraus viele Tierschutzbewegungen, die sich für Tier- und Artenschutz einsetzen, wie zum Beispiel der WWF. Er wurde gegründet, weil durch menschliche Habgier heraus viele Tierarten wie Nashörner, Antilopen oder Galapagos-Schildkröten vorm Aussterben bedroht waren.[14] Aber auch um konkretes Leid von Tieren zu verhindern sowie den Naturschutz zu fördern, gibt es Berufe wie den Förster, die sich konkret um diese kümmert. Eine Folge aus dem Beispiel von Rowe heraus könnte zum Beispiel sein, dass sich Menschen entschließen eine Feuerwehr zu gründen, um (Wald-)Brände effektiver zu löschen oder Techniken wie Brandschneisen entwickeln, damit sich Waldbrände nicht ausbreiten können sowie die Tiere eine Fluchtmöglichkeit haben. Dies könnte durchaus als Gut angesehen werden, was zumindest die absolute Überzeugung von Rowe, dass keine Güter vorstellbar sind, in Zweifel zieht.

Dagegen spricht noch ein weiteres Argument, nämlich die Grundkonstitution der Welt insgesamt. Von Rowe und anderen Atheisten werden solche Beispiele natürlichen Übels angeführt, um sie als Indiz oder Beweis gegen die Existenz Gottes zu benutzen. Aber bietet die Alternative wirklich einen Ausweg? Denn statt dem Theismus wird uns meist der Naturalismus als logisch-vernünftige Alternative präsentiert. Der Naturalismus jedoch bietet keine Erklärung wo sonst der Ursprung des Übels liegen könnte und weshalb sich auf natürlichem Weg nicht eine andere Konstitution in der Welt herausgebildet hat, daher kann er nicht als Alternative gelten. Wie zuvor bereits aufgezeigt, wäre dies lediglich ein Rückzug in den Nihilismus und die Verzweiflung. Wenn man sich jedoch auf die christliche Grundkonzeption einlässt, so ist diese Welt ursprünglich ein von Gott sehr gut geschaffener Ort gewesen, der ohne Leid und Tod angelegt war. Eine menschliche Handlung hatte zur Folge, dass diese Welt nicht mehr ein solcher Ort ist, sondern das Übel in die Welt gekommen ist. Die Theologie nennt dies den Sündenfall (Genesis 3). Leid, Schmerzen, Arbeit, Mühe, Einsamkeit, Missbrauch und Herrschaft werden ausdrücklich dort als Folgen des menschlichen Handelns genannt und nicht nur den Menschen selbst, sondern auch die gesamte Konzeption der Schöpfung betreffen. Beispielhaft werden die Dornen und Disteln auf dem Feld genannt (Genesis 3,18). So fasst der Apostel Paulus im Römerbrief den Zustand der Welt so zusammen: „Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden – nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat – auf Hoffnung hin, dass auch selbst die Schöpfung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei gemacht werden wird zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt.“ (Römer 8,20-22) Die Theologie macht also deutlich, dass nicht nur moralisches Leid auf den Menschen zurück zu führen ist, sondern auch das natürliche Leid in der Welt der Verantwortung des Menschen unterliegt und seinen Ursprung in ihm hat. Die Vergänglichkeit, das Leid und der Tod sind Folgen des menschlichen Handelns, womit wir wieder auf meine vorherigen Argumente zurückgeworfen werden.

Nun könnte man dagegen einwenden, dass es einem liebenden Gott, sollte er denn existieren, doch möglich sein müsste die Grundkonzeption der Welt zu ändern oder von Anfang an anders zu erschaffen. Dies würde aber wieder die Grundfrage aufwerfen, ob diese Welt nicht auch hätte ganz anders sein können und wogegen wir mit Gottfried Wilhelm Leibniz festhalten müssen, dass Gott, nachdem er alle Konzeptionen von Welten miteinander verglichen hat, er sich für die beste aller möglichen Welten entschlossen und sie erschaffen hat.[15] Für viele Atheisten und Skeptiker mag das vielleicht sehr hart klingen, doch wäre folglich das Übel in der Welt eine Konsequenz unserer menschlichen Handlungen. Nicht zu verwechseln ist dies mit der Überzeugung, dass Leid eine Strafe Gottes für konkretes Fehlverhalten des Menschen ist. Hier muss klar getrennt werden, wie es der Philosoph und Christ William Payne Alston in seinem Artikel tat, in dem er auf den Unterschied hinwies, dass kein Verhältnis zwischen persönlicher Sünde und Leid gezogen werden darf, nichtsdestotrotz das Übel aber als allgemeine Strafe, als Konsequenz des menschlichen Handelns insgesamt verstanden werden kann.[16]

 

Fazit

Wie wir gesehen haben, gibt es eine Vielzahl von Argumenten, die gegen die Gültigkeit der am Anfang erwähnten logischen Beweisführung gegen die Existenz Gottes sprechen. Das Übel in der Welt kann nicht als starkes Indiz, nicht einmal überhaupt als Indiz gegen die Existenz Gottes sprechen, da es möglich ist eine Vielzahl von Argumenten anzuführen, die als Indizien für größere Güter dienen könnten, weswegen Gott das Leid in der Welt zulässt und nicht verhindert, obwohl er es könnte.

 

Nachwort

Wenn wir uns zum Abschluss noch einem biblischen Beispiel widmen, wird dies weiter vertieft, nämlich dem Buch und der Person des Hiob.

Hiob wird uns als äußerst frommer Mann vorgestellt, rechtschaffen und redlich, der das Böse stets gemieden hat. Er wird dabei sogar so gottesfürchtig dargestellt, dass er beinahe schon stellvertretend für seine Söhne geglaubt hat (Hiob 1,1-5). Trotzdem widerfährt ihm schlimmes Übel auf vielfache Weise: Sein gesamter Besitz wird geraubt (1,14-17), alle seine Töchter und Söhne fallen einer Naturkatastrophe zum Opfer (1,18-17), er selbst wird von bösen Geschwüren heimgesucht (2,7-8) und seine Frau wendet sich von ihm ab und wünscht ihm den Tod (2,9). Hier haben wir eine hohe Konzentration von moralischem und natürlichem Übel, welches Hiob innerhalb ganz kurzer Zeit ereilt. Im Folgenden kommen vier Freunde zu ihm und versuchen mit verschiedenen Erklärungen die Ursache des Leides zu deuten: Elifas – Zurechtweisung Gottes (Hiob 4-5), Bildas – Strafe Gottes (Hiob 8), Zofar – Gerechtes handeln Gottes (Hiob 11), Elihu – Vorstufe der Gnade (Hiob 32-33). Sie können stellvertretend für die unterschiedlichen Erklärungsversuche für das Leid in der Welt stehen: moralistisch, ich-tranzendierend, fatalistisch, dualistisch, ergänzt noch um die atheistische Deutung mit dem Nihilismus.

Hiob selbst fordert von Gott eine Antwort und möchte die Ursache seines Leides verstehen. Eine Antwort Gottes wird ihm auch gewährt. Zunächst verweist Gott auf seine Gerechtigkeit, seine Allmacht und seine Souveränität (Hiob 38-41). Er stellt sich Hiob als der Gott vor, der alles in seiner Hand hält und diese Welt erschaffen hat und weiterhin erhält. Nichts geschieht ohne sein Wissen und sein Handeln und er verfolgt dabei einen klaren Plan und Ziel. Zugleich verwirft Gott aber die menschlichen Erklärungsversuche der Freunde Hiobs und weist sie als viel zu einfältig und zu kurz gegriffen zurück (Hiob 42,7-10). Erstaunlicherweise ist die Reaktion von Hiob wie folgt: Obwohl er keine direkte Antwort auf die Ursache seines Leides erhält, so findet er doch einen Frieden darin und wieder neuen Sinn und Halt in seinem Leben: „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche.“ (Hiob 42,5-6) Hiob findet, durch sein Leid hindurch, in die persönliche Begegnung mit dem lebendigen Gott. Der Theologe Timothy Keller bezeichnet dies so: „Das große Thema der Bibel ist, wie Gott unendlich Freude nicht trotz unseres Leides bringt, sondern durch unser Leid, so wie Jesus uns nicht trotz des Kreuzes erlöst hat, sondern durch das Kreuz.“[17] Die christliche Theologie rechtfertigt nie das Leid an sich, Leid bleibt Leid. Doch wird das Leid nicht als Strafe angesehen, sondern als Weg der Läuterung, als Konsequenzen unserer Trennung von Gott, und weist uns den Weg hin zu einer lebendigen Beziehung zu dem Schöpfer. Denn am äußersten Punkt des Leides dominiert die Liebe und Gnade. Nach christlichem Verständnis ist Jesus Christus, Gott selbst, in die Welt gekommen, um stellvertretend die Folgen der Sünde, und somit das gesamte Leid der Welt, zu erleiden und auf sich zu ziehen. Als er am Kreuz von Golgatha starb, durchlitt er am eigenen Leib das Übel in der Welt. Aber er tat dies, damit dieser Zustand der ewigen Trennung von Gott, Leid und Tod, nicht ewig bestehen müssen, sondern es die Möglichkeit der Gnade, Vergebung und Gemeinschaft mit Gott gibt. Am Kreuz dominiert die äußerste Liebe Gottes, der stellvertretenden Selbsthingabe, über dem Leid. Durch die Auferstehung von Jesus am dritten Tag wird der Tod besiegt und das Angebot der Versöhnung mit Gott und der ewigen Gemeinschaft mit ihm aufgerichtet. Noch einmal Timothy Keller: „Leid ist sinnvoll, und richtig betrachtet, kann es uns wie einen Nagel tief in das Liebesherz Gottes hineintreiben und uns mehr innere Stabilität und Kraft geben, als wir uns vorstellen können.“[18]

 

 

[1] Rowe, Das Problem des Übels und einige Formen des Atheismus (1979), 161.

[2] Vgl. Rowe, a.a.O., 164.

[3] So die Aufschrift der Buskampagne „Atheist Bus Campaign“ 2009 von einem Bündnis aus verschiedenen atheistischen und humanistischen Organisationen in Deutschland, siehe: www.buskampagne.de (aufgerufen am 01.12.2017).

[4] http://happyplanetindex.org

[5] http://www.oecdbetterlifeindex.org

[6] http://www.paul-gerhardt-gesellschaft.de/Lebenslauf.php

[7] Als Beispiel könnte man hier das Euthanasie-Programm der NS-Diktatur oder die inzwischen weithin akzeptiertes Praxis von Abtreibungen angeführt werden. Beide haben als Grundlage einen Bewertungs- und Unterscheidungsprozess von lebenswertem und lebensunwertem Leben mit der Folge, dass durch solche Urteile die Würde des betroffenen Menschen ihm völlig abgesprochen wird und mit dem Tod belegt wird.

[8] Swinburne, Gibt es einen Gott? (2006), 93.

[9] https://www.lifewithoutlimbs.org/about-nick/bio/

[10] http://www.francke-halle.de/

[11] http://www.rauheshaus.de/das-rauhe-haus/ueber-uns.html

[12] Rowe, a.a.O., 163.

[13] Rowe, a.a.O., 163f.

[14] http://www.wwf.de/ueber-uns/geschichte-des-wwf/

[15] Vgl. Leibniz, Die Theodizee (42017), 1. Teil §52.

[16] Vgl. Alston, The Inductive Argument from Evil and the Human Cognitive Condition (1991), 37f.

[17] Keller, Gott im Leid begegnen (2015), 15.

[18] Keller, a.a.O., 44.

Über Martin P. Grünholz

Martin P. Grünholz promoviert an der theologischen Fakultät der Universität Fribourg/Schweiz im Fachbereich Dogmatik. Er ist Hauptpastor der evangelischen AB Gemeinde in Steinen/Deutschland, Mitglied der Fortsetzungsgruppe des Netzwerkes Bibel und Bekenntnis und unterrichtet im Fach Apologetik im Orientierungsjahr der Evang. Brüdergemeinde Korntal. Er ist verheiratet mit Judith und gemeinsam haben sie zwei Söhne.

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