Andere Fragen – anderes Evangelium?

„Wie kann meine Sünde vergeben werden?“ „Wie finde ich Gnade vor Gott?“ „Wie komme ich in den Himmel?“ Zur Zeit Martin Luthers waren das brandheiße Fragen, die viele Menschen beschäftigten – so sehr, dass sie sogar bereit waren, Geld für Ablassbriefe zu bezahlen, um Vergebung, Gnade und den Himmel zu finden. Martin Luthers Lehre, dass allein der Glaube uns rettet und Vergebung bringt, war eine phantastische Antwort auf die brennenden Fragen der damaligen Zeit. Luther hat für die damaligen Menschen eine Brücke gebaut über einen reißenden Strom von weit verbreiteten Ängsten, den die Kirche mit ihrem Ablasshandel zusätzlich geschürt hat.

Der reißende Strom von damals ist heute höchstens noch ein kleines Rinnsal, für das kein Mensch mehr eine Brücke braucht. Sünde beschäftigt die Menschen höchstens noch in Bezug auf falsche Ernährung. Außerdem steht für die meisten Menschen fest: Falls es Gott gibt, dann ist es in jedem Fall ein lieber Gott, der mich niemals in die Hölle schmeißen würde.

Der Fluss der Fragen und Ängste fließt heutzutage anderswo. Da geht es um die Suche nach Identität, nach Sinn, nach Orientierung und tragfähigen Beziehungen. Brauchen diese neuen Fragen also ganz neue Antworten? Müssen wir vielleicht ganz neue Brücken bauen statt die alte Brücke der Reformationszeit zu renovieren und zu modernisieren? Braucht unsere heutige Gesellschaft ein anderes Evangelium als die Gesellschaft Martin Luthers?

Bei Paulus lesen wir, dass es ihm auf seinen Missionsreisen äußerst wichtig war, genau darauf zu achten, welche Fragen die Menschen bewegen und womit sie sich beschäftigen. Er suchte nach guten Anknüpfungspunkten, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen (Apostelgeschichte 17, 23). Das zeigt: Die Orientierung an den Fragen der Menschen ist wichtig für unsere missionarische Arbeit. Und auch in Deutschland sind wir ja längst wieder in einer Missionssituation, die sich von der Situation des Paulus kaum unterscheidet.

Müssen wir also unsere Botschaft verändern, damit die Kirche in Deutschland gegen den Trend wieder wachsen kann? Müssen wir lernen, das Evangelium ganz anders zu positionieren und mit ganz anderen Schwerpunkten zu versehen als Martin Luther das tat?

Nein, ich glaube nicht. Denn die Annahme, dass wir als Kirche missionarisch erfolgreicher werden, wenn wir nur eine passende Kommunikationsstrategie entwickeln, beruht m.E. auf einem grundsätzlichen Missverständnis:

Warum war denn die erste Generation der Christen eigentlich so erfolgreich? Warum wächst heute das Evangelium wie verrückt in absolut christenfeindlichen Gesellschaften wie z.B. dem Iran oder China? Ganz sicher nicht deshalb, weil dort die Christen viel Zeit auf soziokulturelle Studien verwenden und sich passende Kommunikationsstrategien antrainieren. Auch nicht, weil das Evangelium eine passende Antwort auf menschliche Bedürfnisse bietet. Im Gegenteil: In der Verfolgungssituation entzieht das Evangelium Sicherheit, statt Sicherheit zu geben. Es entzieht Gemeinschaft, statt Gemeinschaft zu geben. Wenn die neuen Christen aus ihren Familien ausgestoßen und gesellschaftlich geächtet werden entzieht das Evangelium Schutz und Annahme statt Schutz und Annahme zu geben. Es bringt gesellschaftliche Schande über die Menschen statt die Scham zu nehmen.

Schauen wir uns doch einmal die Schlüsselsätze aus den extrem erfolgreichen Botschaften der Apostel an: „In keinem anderen Namen ist das Heil!“ (Apg. 4, 12) „Kehrt um!“ (Apg. 2, 38) Dieser Absolutheits- und Wahrheitsanspruch, der dem damaligen gesellschaftlichen Konsens komplett widersprach, sowie das grundlegende Infragestellen des bisherigen Lebensstils der Menschen war noch nie populär. Das war noch nie Antwort auf die Fragen der Menschen. Das war im Gegenteil schon immer ein provokatives und polarisierendes Ärgernis, das nur deshalb so erfolgreich war, weil die Zeugnisgeber eine so enorme Ausstrahlung hatten und so glaub-würdig waren.

Das Evangelium stellt ja gerade nicht den Menschen mit seinen Bedürfnissen, Ideen, Ängsten und Fragen in den Mittelpunkt sondern den gekreuzigten Christus und die Botschaft, dass wir mit Christus am Kreuz sterben müssen, damit Erneuerung möglich wird. Erst durch diese Erneuerung, diese Neugeburt durch Taufe und Heiliger Geist beginnt das Evangelium, auch Bedürfnisse nach Annahme, Liebe, Versorgung, Gemeinschaft, Identität, Zukunft, Sicherheit usw. zu stillen. Aber ohne diese Erneuerung bleiben alle Versprechen nach Bedürfnisstillung leere Versprechen, mit denen man gerade in der Verfolgungssituation erst gar nicht zu kommen braucht. Und auch bei uns leiden doch so viele Gemeinden daran, dass immer mehr Gemeindeglieder die Erwartung haben, dass die Gemeinde ihre Bedürfnisse stillen soll. Das kann niemals funktionieren. Am Ende kann Gott allein unsere Bedürfnisse stillen. Wenn wir nicht lernen, unsere Bedürfnisse selbst aus einem lebendigen geistlichen Leben zu stillen und das stattdessen primär von der Gemeinde erwarten, denn wird das zwangsläufig immer in Frust und Zerwürfnissen enden. Solange wir in unseren Gemeinden keine geistlichen Selbstversorger sondern nur Konsumenten hervorbringen bleibt Gemeindearbeit ein zähes Geschäft, in dem die einen unzufrieden sind und die anderen in den Burnout getrieben werden.

Deshalb bin ich überzeugt davon: Unsere lahmende Kirche kann nur dann erfolgreich werden, wenn Sie das Geheimnis der Erneuerung in Christus durch das Kreuz und den Heiligen Geist wieder entdeckt und wenn daraus authentische, glaubwürdige Gläubige und schließlich auch Gemeinden wachsen, in denen der Jubel der Erlösten, die Dankbarkeit der Begnadigten und die Gemeinschaft der Heiligen sichtbar und spürbar wird. Wachstum wird möglich mit Gemeinden, die einen offenkundigen Unterschied zur Welt machen, nicht weil sie die besseren Vorsätze haben sondern weil in ihnen eine übernatürliche Kraft des Heiligen Geistes sichtbar und spürbar wird, die die Menschen so sichtbar verändert und erneuert, dass sogar die Esoteriker neidisch werden (Apg. 8, 18).

Um im Bild vom Fluss und der Brücke zu bleiben: Der entscheidende Fluss, den das Evangelium überbrückt, hat sich nie verändert und er wird sich nie verändern bis Jesus wiederkommt: Das ist die Sündhaftigkeit des Menschen, der es aus eigener Kraft eben niemals schafft, Solidarität, Liebe, Gemeinschaft, Selbstlosigkeit, Freiheit usw. zu leben. Deshalb ist auch die Brücke des Evangeliums im Kern seit 2.000 Jahren in aller Welt und in allen Kulturen die gleiche: Jesus erlöst uns aus unserem alten Leben der Verstrickung in die weltlichen Denk- und Verhaltensmuster, indem wir unser Leben in den Tod geben (Taufe), um uns aus Gnade mit Vergebung beschenken und durch den Heiligen Geist erneuern zu lassen.

Den schwersten Schaden nimmt die Kirche daher immer dann, wenn sie das Ärgernis des Kreuzes beseitigt, wenn sie das Geheimnis der Neugeburt durch Wasser und Geist nicht mehr mit Leben füllen kann und wenn sie stattdessen versucht, ihre verloren gegangene Kraft und Ausstrahlung mit intellektuellen Strategien zu kompensieren oder gar mit dem Versuch, das Evangelium mit den säkularen intellektuellen Strömungen kompatibel zu machen. Das kann niemals funktionieren. Gerade für die Klugen und Intellektuellen ist das Evangelium doch die größte Provokation (1. Kor. 1, 20), weil es die Weisheit dieser Welt und den dahinter stehenden menschlichen Stolz komplett in Frage stellt und stattdessen sagt: Die Furcht des Herrn ist der Anfang aller Weisheit (Psalm 111, 10; Sprüche 9, 10).

Bevor wir uns also ausgiebig mit Kommunikationsstrategien befassen steht die Kirche zunächst vor einer anderen Aufgabe: Wie können wir zurückkehren zu unserer ersten Liebe zu Christus? (Offb. 3, 5) Wie können wir Anbetung, Gebet und Hören auf Gottes Wort neu beleben, damit unser Glaube wieder lebendiger, leidenschaftlicher, dadurch auch authentischer und glaub-würdiger wird? Denn eine Botschaft, die wir nicht existenziell leben, wird gerade in der heutigen Zeit niemals nachhaltigen Eindruck bei den Menschen hinterlassen.

Jesus hat zudem zum Ausdruck gebracht, dass unsere Einheit miteinander der entscheidende Schlüssel ist, dass die Welt glaubt (Joh. 17, 21). Echte Einheit wächst aber nie durch intellektuellen Konsens sondern immer vom Haupt Christus her, der die Gelenke seines Leibes miteinander verbindet (Kol. 2, 19). Ich habe es so oft erlebt: Wo Christus die gelebte Mitte ist, da wächst Einheit wie von selbst. Nur authentisches Christsein und geistgewirkte Einheit gibt unserem Zeugnis in der Welt die notwendige Glaubwürdigkeit, die unbedingt notwendig ist.

Wenn die Kirche sich auf diese Punkte konzentriert und dann zusätzlich noch über kluge Kommunikation und Anknüpfungspunkte in der konkreten Missionssituation nachdenkt, dann ist das ein gutes i-Tüpfelchen zu der Frage, wie wir unsere Gesellschaft erreichen können.

Dieser Blog-Beitrag von Markus Till erschien zuerst auf aufatmen in Gottes Gegenwart . Lies hier den Original-Artikel "Andere Fragen – anderes Evangelium?".

Über Dr. Markus Till

Evangelisch landeskirchlicher Autor, Blogger und Lobpreismusiker mit pietistischen Wurzeln und charismatischer Prägung

7 thoughts on “Andere Fragen – anderes Evangelium?

  1. Sehr gut, was wir brauchen sind einfach Christen die in kindlichem Vertrauen Jesus nachfolgen, dem in ihnenwohnenden Heiligen Geist vertrauen, dass er zu rechten Zeit die richtigen Worte gibt um Menschen mit dem Evangelium bekannt zu machen und diese Menschen dann zu Jesus finden.
    Es braucht nur eine Methode: Für den Weg durch Jesus zu Gott kommen zu können durch den Heiligen Geist ein Werkzeug sein.

  2. Da muss ein wenig korrigiert werden.Der Ablaß, den es heute auch noch gibt, hat nichts mit Sündenvergebung zu tun. Hier geht und ging es nur um den Nachlaß der Sündenfolgen. Das ist ein grosser Unterschied, den viele bis heute nicht verstehen, wenn sogar gelernte ev. Theologen wie Kässmann das nicht wissen (wollen). Die Sündenvergebung muss durch Reue, Bekennen, ggfs. Wiedergutmachung und den Glauben an Gottes Gnade erreicht werden.
    Richtig ist, daß Luther, der wohl im Nominalismus gefangen war, diese Fragen stellte. nachdem er ja nicht freiwillig ins Kloster ging. Die Kirche hat zwar zu allen Zeiten gelehrt, daß der Glaube die Voraussetzung sei, die Gnade zu erhalten, aber damals ist diese Erkenntnis wie übrigens heute ebenso wenig praktiziert worden. Luther war ja nun nicht gerade als grosser Bekehrer bekannt, eher als Kirchenpolitiker, der anfangs besonders den Ablaßhandel angriff, hernach aber auch andere Dinge. Ohne die Hilfe der weltlichen Fürsten wäre er nicht weit gekommen. Daß er die Wichtigkeit des Glaubens wieder neu betonte, ist sein Verdienst. Leider aber hat er auch Dinge vertreten, die man nur als schlimm bezeichnen kann. Im evangelischen Bereich sehe ich eher die nach Luther entstandenen pietistischen Bewegungen als wertvoller an. Denen ging es mehr um den persönlichen Glauben und weniger um kirchenpolitische Fragen. Luther hat eben zwei Gesichter: Neben guten geistlichen Einsichten eben auch die sehr einseitigen Meinungen zu Glaubensfragen und dementsprechende Handlungsanweisungen, die so waren, als ob er das NT gar nicht gelesen hätte wiewohl er das doch neu übersetzt hatte (andere Übersetzungen ins Deutsche gab es ja schon vorher und die hat er zum Teil auch benutzt).

  3. Der grundsätzliche Frage nach einem andern Evnagelium werden wir uns stellen müssen und es wird aus meiner Sicht auf die Dauer eine Klärung geben müssen. Es ist einfach nicht das Gleiche, ob die Religion dem Menschen unterstellt ist wie in der Aufklärung oder Gott über uns regiert und es eine absolute Wahrheit gibt.
    Auch wenn man es versucht wird das auf Dauer nicht miteinander funktionieren
    So wie ein Porsche und ein Daimler wohl beide Autos sind, aber eben ein Porsche kein Daimler

  4. Der Beitrag verkennt, dass das Evangelium – oder das, was man darunter versteht – immer und überall nur Aufnahme findet, wenn dem ein Bedürfnis des Menschen entgegenkommt. Eine desinteressierte Seele kann durch nicht angesprochen werden.
    Mit Recht werden Luther und seine Zeit erwähnt. Die Reformation hatte nur aus diesem Grund so großen Erfolg. Wobei dieser nicht nur positiv ist, sondern auch recht fragwürdig:
    https://manfredreichelt.wordpress.com/2016/02/20/martin-luthers-erbe/

    Man muss kein „anderes Evangelium“ predigen, wenn man HEUTE und bei uns in EUROPA Menschen erreichen will. Aber die brennenden Fragen der Menschen muss man beantworten können.
    Doch dazu ist eine enge, erkenntnislose Theologie NICHT in der Lage. „chrismon“ fragte einmal „Bei all dem Leid auf der Welt: Gibt es Gott?“ Es antworteten angesichts dessen 94,19 % mit „Nein“ . Nur 5,82 % mit „Ja“.
    Das ist nur EIN Beispiel für das Versagen der Theologie. Viele andere könnten genannt werden. Da muss man sich nicht wundern, dass Menschen Antwort auf ihre Fragen woanders suchen.

      1. Liebe Lilli,
        was fragen Sie? – Wenn Sie meinen Blog kennen oder meine bisherigen Kommentare auf Biblipedia gelesen haben, dann können Sie doch wissen, dass ich an Gott glaube.
        Welche Antworten ich für das Versagen der Theologie habe?
        1.) Geistige Trägheit derer, die wirkliche Christen sein wollen
        2.) Mangelnde geistige Kämpfe gegen den eigenen Unglauben und die Lüste des Fleisches
        3.) Durch alles dieses, keine Erkenntnisse
        4.) Dadurch keine Kraft zur Überwindung der eigenen Schwächen und keine Antworten auf die Fragen der Menschen.

        Als Ergebnis kommt dabei ein verkopfter Biblizismus heraus.
        Gedankenkonstruktionen auf der Grundlage der Bibel, die aber nichts mit der Realität zu tun haben.

        Das, was ich hier aufgeführt habe, ist nur das Versagen der Theologie, in deren Tradition Biblipedia stehen will.

        1. @Manfred Reichelt,
          Danke, für ihre Antwort.
          Ja wenn sie noch weiter die Theologie immer wieder in frage stellen, werden irgendwann auch die letzten 5,82% sich auflösen, damit kommen wir also auch nicht weiter!
          Es brauch Menschen die die Liebe zur Wahrheit nicht verschweigen. Und Biblipedia hat genau die Theologen und Berichteschreiber die das sinkende Schiff, nicht untergehen lassen. Kopf und Herz, beides ist wichtig.
          Sie glauben an Gott, ich glaube auch an Gott, Wiederstände gibts in allen Bereichen, der Auftrag heißt; geht hin in alle Welt…… und nicht die Zustände bejammern, und schon gar nicht anklagen.
          Wir alle haben versagt, wir haben die gute Botschaft blokiert, wir waren uns oft selbst genug; ,zurück zum Anfang: Johannes der Täufer lud die Sünder ein; kehrt um, tut buße; bereitet dem Herrn den Weg“ ,unser eigener Weg war uns oft wichtiger.

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