Der Baum

In Theologistan lebte ein Baum. Viele Jahre blühte er prächtig und brachte Frucht. Immer wieder spendete er Menschen Schatten, die auf der Flucht waren. Er machte ihnen Mut und sie lernten von seiner Standfestigkeit für ihr eigenes Leben. Sie sahen: Der Baum ist nicht einfach nur irgendwie gewachsen, wie es ihm gerade passte. Er hat sich am Licht ausgerichtet, er wurde durch Stürme stark.

Mit der Zeit kamen immer weniger Menschen. Bald wurde ein Zaun um den Baum gemacht, weil nur die ausgebildeten Gärtner von Theologistan den Baum von Nahem sehen und pflegen durften. Gärtnern durfte nur lernen, wer alle Pflanzen gut kannte, und so wurde unser Baum immer einsamer. Alle sprachen von ihm, jeder berief sich gern auf ihn, doch immer aus dem sicheren Abstand von jenseits des Zaunes.

Plötzlich fehlte auf einer Seite der Zaun. Nun gab es zwei Parteien in Theologistan, die Hinterzäuner und die Vorderzäuner. Die Hinterzäuner hielten weiterhin Abstand und blieben hinter dem Zaun. Die Vorderzäuner näherten sich von der anderen Seite, wo sich kein Zaun mehr befand. Die Vorderzäuner fanden es wichtig, dass jeder Mensch freien Zugang zum Baum haben soll.

Eines Tages kam ein Vorderzäuner auf die Idee, den Baum nicht nur anzuschauen, er wollte auch wissen, woraus der Baum besteht. Er brachte ein Messer mit und hatte eine Schrift verfasst „Abhandlung von freier Untersuchung des Baumes“. Er forderte, dass der Baum ganz genau seziert und untersucht werden muss. Mit der Zeit gibt es immer mehr Universitäten, die davon leben konnten. Die Hinterzäuner fühlten sich bestätigt und fanden, sie hätten recht damit, dass sie niemanden zu nahe an den Baum heranlassen würden.

Ein Professor der Baumologie wollte die Jahresringe des Baumes untersuchen. Er schnitt ein Stück vom Stamm des Baumes auf und je mehr er sich in die Jahresringe vertiefte, je mehr er die frühe Zeit des Baumes betrachtete, desto mehr sah er Unterschiede zu seiner Zeit und sprach von einem unüberbrückbaren garstigen Graben zwischen der Frühzeit des Baumes und seiner Zeit.

Ein anderer Baumologe wollte über das Leben des Baumsamens schreiben. Er brachte eine ganze Forschungsrichtung hervor, die sich damit beschäftigten, was man über den Baumsamen herausfinden kann, wenn man alle Veränderungen, die sich in den Jahresringen niederschlugen, entfernt. Nach hundert Jahren Baumsamenforschung kam man zum Schluss, dass jeder Forscher am Ende immer genau das herausfinden wird, was er zu Beginn schon voraussetzte.

Wieder ein anderer Baumforscher wollte die Methoden der Forschung wissenschaftlicher gestalten. Er fand, dass man alles am Baum in Frage stellen müsse, und dann dürfe nur das übrigbleiben, was wissenschaftlichen Erklärungen entspricht: Nur das, was sich durch das Prinzip von Ursache und Wirkung erklären lässt, und nur das, was auch in der jetzigen Zeit festgestellt werden kann, darf als wahr betrachtet werden.

Schon lange gab es Bestrebungen, den Baum als Pflanze zu betrachten, die von vielen Generationen von Gärtnern immer wieder manipuliert, verfälscht und mit Fehlern behaftet worden war. Viele Erklärungsmodelle für alle möglichen Verästelungen waren publiziert worden. Und irgendwann fanden auch die Hinterzäuner, dass sie nicht mehr um den Gebrauch dieser zahllosen Methoden herum kämen.

Erst spät bemerkten die Theologistaner, dass der Baum immer weniger Blätter und Frucht trug. Nur wenige kamen auf die Idee, dass dies am ständigen Zerlegen des Baumes liegen könnte. Es gab viele Versuche, dem Baum zu helfen. Einige dachten, es gehe dem Baum so schlecht, weil es noch so viel zu tun gab, um die Ungerechtigkeit in der Welt zu beseitigen. Manche nehmen die Frucht des Baumes und pflanzen sie anderswo wieder in den Boden. Daraus wachsen schnell weitere Pflanzen, die ihrerseits Frucht tragen. Doch auch dort sammeln sich bald wieder Gelehrte, die auch diese Bäume sezieren wollen. Sie sind der Meinung, dass es zu viel Streit um die Baumologie gebe. Man müsse den Gegensatz zwischen den Sezierern und den Nichtsezierern aufheben, indem man immer nur ein wenig aufs Mal seziert. Wie diese Geschichte weiter geht, wird sich noch zeigen. Manches davon liegt nun auch in unser aller Händen. 

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Über Jonas Erne

Ich bin Ehemann, Vater, Theologe, Gemeindereferent, Vielleser. Auf meinem Blog geht es um Gelesenes, aber auch um die Auseinandersetzung mit Fragen des täglichen Lebens, mit der Kultur und der Bibel. Hin und wieder gibt es auch kreative Texte wie Gedichte, kurze Geschichten und mehr.

2 thoughts on “Der Baum

  1. Hallo Jonas, mit Weisheit hast du nicht gespart, ….ein bemerkenswerter Artikel!

    Wir wissen soviel und glauben so wenig, und das was wir wissen, wollen wir nicht haben in unseren Lebenswelten. Weil es uns stört und hindert, unser Leben frei zu entfalten. Wir leben ,,bestimmt“ und das ganz in uns ,,selbst“.
    Und wenn Jesus ruft: folge mir nach“….. dann berufen wir uns auf unser Wissen, weil der Weg zu schmal ist, wir wollen nicht alles aufgeben, wir wollen glauben was wir wissen, und nicht glauben wie Gott es wirklich meint.
    Wir sehnen uns nach einem besseren Weg, ,,denn wir sind klug“ und genau deshalb laufen wir in die falsche Richtung….am Leben vorbei, und auch vorbei an Gott, und wir wissen das Gott das nicht gutheißen kann,….aber unser Verstand sagt: ich weiß so viel ,,daran glaube ich“

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