„Erfolgsgeheimnis“oder „Babylonische Gefangenschaft“ bei den Evangelikalen?

Offene Antwort auf die Anfrage von Dr. Markus Till nach einer „Gegenperspektive“ zu Thesen über „das Erfolgsgeheimnis der Evangelikalen“ in der Buch-Analyse von Prof. Dr. Thorsten Dietz.

Lieber Bruder Markus Till!
Dr. Thorsten Dietz hat einige positive Thesen über das „Erfolgsgeheimnis der Evangelikalen“ verfasst.  Zu Deiner Anfrage nach Gegenperspektiven zu seinen Thesen im Offen.Bar Blog möchte ich mit folgender Gegenanfrage antworten: Sollten wir nicht ergänzend zu seinen Thesen eine geschichtlich basierte Studie über die weltweite Heiligungsbewegung publizieren? Und zwar deshalb, weil diese für die globale evangelikale Bewegung grundlegend war, ja mit ihr identisch zu sehen ist. Letzteres hat sich inzwischen leider geändert. Und warum? Darüber besteht z. Zt. ein grundsätzlicher Klärungsbedarf.
Ich selbst wurde als Jungbekehrter (1946) von den Ausläufern der Heiligungsbewegung hierzulande noch stark erfasst. Die Heiligungsliteratur der Gründer hat mich schon vor meiner theologischen Ausbildung (St. Chrischona 1954-58) geprägt und gefestigt. Das befähigte mich, die hiesige evangelikale Krisenentwicklung gleichsam „als Zeitzeuge“ zu erleben und in der Buchreihe „Lebens-Reformation“ literarisch zu analysieren (Ernst Franz-Verlag, z.T. noch antiquarisch erhältlich). Dieses Vorrecht bleibt der heutigen Bibellehrer-Generation schon altershalber versagt.

1. Evangelikaler Jahrhundert-Konflikt noch unbewältigt
Wir wissen, dass die Israeliten ihr Gelobtes Land verloren haben und ins Babylonische Exil[1] verschleppt worden sind.  Leider müssen wir von ähnlich dramatischen Vorgängen innerhalb der deutschsprachigen Heiligungsbewegung berichten. Schon bald nach dem Aufbruch ins „Verheißene Land“ kam es zu einer schmerzlichen Trennung unter den evangelikalen Christen. Dabei spielte die umstrittene „Berliner Erklärung“ (1909), in welcher pfingstliche und anti-pfingstliche Evangelikale sich für Jahrzehnte radikal trennten, eine wichtige Rolle.  Als Folge davon ist die weltweit greifende Heiligungsbewegung im deutschen Sprachraum ins Stocken geraten.
Da es sich im Rahmen unseres Buchthemas um geschichtliche Vorgänge handelt, habe ich ausführlich darüber berichtet.
Die ekstatischen Entgleisungen im Konsens der um 1900 aufkommenden „Zungenbewegung“ ordne ich nicht – wie üblich – als primäre, sondern als sekundäre Konfliktursache ein. Darum wird im Rahmen dieses Buches nicht detailliert darauf eingegangen. Umso deutlicher werde ich über die gravierenden Hintergründe, die verflochtenen Ursachen und die tragischen Auswirkungen der „Babylonischen Gefangenschaft“ informieren. Dabei wird der folgenschwere Verlust der biblischen Lehrakzente über die „Heiligung durch den Glauben“ statt durch eigene Leistung, in den Focus gestellt.
 Dieser schmerzliche Verlust konnte entstehen, weil das biblische Zeugnis vom Mit-Christus-Sterben-und-Auferstehen (Röm 6-8 usw.), sowie von seinem In-uns Wohnen-und-Wirken (Joh14-17 u.a..) auf den deutschsprachigen Kanzeln und im Literaturangebot nahezu verstummte. Ebenfalls wird im Buch „Von der Babylonischen Gefangenschaft“ begründet, warum man die frohe Botschaft vom befreienden Sieg über jede erkannte Sünde häufig als arrogant beurteilte und deshalb sogar davor warnte“.

2. „Halte dich jede Sekunde für mitgekreuzigt“
Der Zeltevangelist Fritz Binde, (1867-1921) – ein leidenschaftlicher Zeuge der Heiligungsbotschaft (mein Kollege im gleichen Zeltmissionswerk DZM) verkündigte nachdrücklich:
„Übe dich in der klaren Glaubensrechnung: Mein altes, gottfeindliches Wesen samt seinem Werkzeug, dem Leib der Sünde… ist mit ans Kreuz geheftet und dort seiner Macht und Kraft beraubt worden…
Doch nur daran wird das neue Leben an uns erkannt, dass, wenn man uns, sei es mit Nadelstichen oder Hammerschlägen des Neides, der Verleumdung, des Hasses, der Ungerechtigkeit ans Kreuz heften will, wir bereits am Kreuz angetroffen werden, also gar nicht mehr durch die Bosheit zu treffen sind. Und wenn man uns nach unserem Ich-Leben trachtet, um es uns streitig zu machen und ganz zu rauben, wir es bereits am Kreuz verloren haben. Und wenn man uns beiseiteschaffen und abtun will, wir bereits mit Christus abgetan und ins Grab gekommen sind.
Die derart mit der Gleichheit des Todes Christi verwachsen sind, die sind es auch in der Gleichheit seiner Auferstehung (Röm 6,5). Gott sei Dank für dieses heilige Entweder Oder!“
So konkret und schlüssig, aber auch überführend und zwingend kann die Botschaft von der Glaubens-Heiligung sein. Da gibt es nichts mehr zu diskutieren, sondern nur zu bejahen oder zu verneinen. Man kann nur eins von beidem, entweder glauben und gehorchen oder die Kraft des Evangeliums im Alltag verleugnen (2 Tim 3,5). Darum wird das Wort vom Kreuz und von der richtig verstandenen Glaubens-Heiligung für die einen Grund zum Jubeln, für die anderen jedoch Anlass zum Ärgernis sein (Gal 5,11).


[1] Exil bedeutet Verbannung bzw. Verbannungsort und wird hier gleichbedeutend mit der Babylonischen Gefangenschaft gebraucht. Bei diesem Kapitel ist zu beachten, dass wir die im Vergleich mit der Babylonischen Gefangenschaft geschilderten Vorgänge nicht pauschal etwa auf den Pietismus übertragen wollen und können. Nicht alle Mitglieder der Kirchen, Gemeinschaften und Gruppierungen im erweckten Protestantismus hatten den Durchbruch zur Lebens-Reformation durch den Einfluss der Heiligungsbewegung bereits vollzogen. Auch hat es beim Zustandekommen und Akzeptieren der „Berliner Erklärung“ etwa im Bereich der Ev. Allianz durchaus keinen Konsens gegeben. Ebenfalls waren die erweckten Kreise in der Schweiz nicht generell davon erfasst worden.

Dieser Blog-Beitrag von Herbert Masuch erschien zuerst auf Christus-Portal-Blog . Lies hier den Original-Artikel "„Erfolgsgeheimnis“oder „Babylonische Gefangenschaft“ bei den Evangelikalen?".

Über Herbert Masuch

HERBERT MASUCH wurde 1929 in Ostpreußen geboren. Nach den Zusammenbruch des Dritten Reich erlebte er eine bewusste Umkehr zu Jesus Christus. Von 1954 bis 1958 studierte er am Theologischen Seminar St. Chrischona in der Schweiz. Es folgte ein mehrjähriger Dienst in der Essener Stadtmission. 1963 wechselte er als Evangelist in die Deutsche Zeltmission. Etwa dreißig Jahre lang war Masuch im In- und Ausland als Rufer zu Gott unterwegs. Auch durch die Mitarbeit beim Evangeliums-Rundfunk, die Veröffentlichung mehrerer Bücher und als Liedautor war er bemüht, die Frohe Nachricht von Jesus, dem Retter der Welt, zu bezeugen. Seit 1964 sind Masuch’s glücklich verheiratet und haben drei Kinder. Ehefrau Gretel war mit ihrem Mann viele Jahre missionarisch unterwegs. Heute wendet sich der ehemalige Evangelist überwiegend an Christen. Er bietet Hilfen an, die befreiende Botschaft „Christus in euch“ erstmals oder neu zu entdecken und zu verwirklichen. Diesem Anliegen dient auch seine dreibändige Buchreihe Lebensreformation (1994), die zugleich eine geschichtliche Analyse des jahrzehntelangen charismatischen Konfliktesherdes bietet.

5 thoughts on “„Erfolgsgeheimnis“oder „Babylonische Gefangenschaft“ bei den Evangelikalen?

  1. Lieber Herbert Masuch, danke für Deinen Text. Die historischen Hintergründe und die theologischen Details der Heiligungsbewegung kenne ich leider nicht. Heiligung ist mir aber persönlich sehr wichtig. Ich halte Heiligung für ein unverzichtbares Element der Christusnachfolge. Ich habe das in meinem AiGG-Glaubenskurs vor allem in meinem Vortrag über das Kreuz zum Ausdruck gebracht. Hättest Du die Zeit, Dir das Kapitel in meinem AiGG-Glaubenskursbuch zu diesem Thema mal durchzulesen und mir Rückmeldung zu geben, inwieweit ich hier die Anliegen der Heiligungsbewegung aufgreife? https://blog.aigg.de/wp-content/uploads/2021/02/Buch-AiGG-Kap7-Kreuz-und-Gnade.pdf

    1. Hallo Markus
      Habe deinen Beitrag AiGG Glaubenskurs gelesen und alles was du schreibst hat mich sehr berührt, es würde mich mal interessieren, wann du diesen Beitrag geschrieben hast, denn er ist mit so einer tiefen Gotteserkenntnis gefüllt, so etwas finde ich heutzutage nicht mehr.

      Mir kamen dabei auch noch eigene Gedanken:
      Der Heilige Geist in uns befiehlt uns nicht, ER zeigt uns die Sünde die wir begehen wollen, und lässt uns entscheiden welchen Weg wir gehen wollen, den Weg der Sünde (alte Natur) oder zum Kreuz (neues Leben), wir müssen überwinden, damit zeigen wir Gott unsere Liebe, wenn wir zum Kreuz gehen.
      Wir wollen mit Jesus eins sein, und doch müssen wir erkennen das die Sünde in uns dem widerstrebt, der natürliche Mensch will nicht eins sein mit Jesus, das ist der Schmerz in uns, so wie Paulus es sagt: Wer wird mich erlösen vom Leib des Verderbens“. Und so erkennen wir die Führung des H.G. und müssen erkennen, …. es kommt nichts gutes aus uns selbst, alles kommt von Gott. Der H.G. hilft uns zu überwinden, alles kommt von Ihm, nicht aus uns selbst, wir müssen uns entscheiden, für die eine oder andere Seite.
      So kommt unsere Heiligung allein von Gott, ,,auf das sich nicht jemand rühme“
      Wir bekommen zwei Wege vorgelegt, den alten und den neuen, …..wir erwiedern die Liebe Gottes wenn wir den Weg zum Kreuz wählen.

      1. Liebe Lilli, vielen Dank für die ermutigende Rückmeldung zu meinem Text über das Kreuz! Die Inhalte dieses Buchs sind über viele Jahre gewachsen im Zuge des Glaubenskurses, den ich in meiner Gemeinde vor Ort entwickelt und ständig weiterentwickelt habe. Deinen Gedanken kann ich zustimmen. Viele Grüße, Markus

  2. Die sog. Heiligungsbewegung, die auch mit der Naherwartung der Kommens Jesu verknüpft war, zumindest teilweise, ist auch mit dem Namen Christian Röckle und seiner Philadelphia-Gemeinde in Leonberg verbunden. U.a. über Herrn Röckle gibt es auch ein Buch von Kurt Hutten: „Seher, Grübler, Enthusiasten“.
    Was Röckle teilweise postuliert hat, war schön und gut, aber hat am Ende doch nicht geklappt. Der Grund ist einfach: Heiligung gibt es nur mit der Gnade und nicht durch eigene Bemühungen und das ist sehr wichtig zu erkennen: über die Gnade Gottes kann man nicht einfach verfügen, so sehr man sich auch müht.
    Was offenbar die winzige Minderheit der Christen, die weitgehend das Ziel der Heiligung erreicht hatten, von der Masse der Durchschnittschristen unterscheidet, ist deren Art des Betens. Dann hatten sie auch die Gabe der Tränen und weitere Geistesgaben. Das alles aber kann man nicht machen, das gibt Gott nur den Menschen, die innigst beten, anders gesagt zu Gott flehen um komplette Sündenbefreiung. Da wird dann auch mal von einer zweiten Bekehrung geredet. Ähnliches kann man bei Johannes Gommel z,B. nachlesen. Das will aber heute kaum jemand mehr hören. Man hört und liest heute lieber leere Worte von Predigern, die keine Kraft haben zur Lebensänderung und nur dem Zeitgeist huldigen. Das hat auch schon dieser Johannes Gommel, der 1841 gestorben ist, erwähnt in seinen Ansprachen.
    Ich kannte noch vor längerer Zeit einen alten Mann, der berichtet hat, dass seine Vorfahren den Johannes Gommel noch gekannt haben und über ihn berichtet haben, dass sein Gesicht beim Gebet errötete und leuchtete. Genau dasselbe wird auch von anderen sehr geheiligten Christen berichtet.

    Was Röckle angeht, gab es da irgendwann noch den Konflikt mit der evangelischen Landeskirche wegen der Erwachsenentaufe.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.