Unsere Gesellschaft ist immer weniger vom christlichen Glauben geprägt. Man kann sich darüber aufregen, muss es aber nicht. Fakt ist, dass immer mehr erklärt werden muss, was lange Zeit fast selbstverständlich war. Zugleich haben wir es mit einer Gesellschaft zu tun, die sich enorm nach Erlösung sehnt – dies aber nicht merkt, sondern oft geradezu verdrängt. Mich erinnert das immer wieder an Paulus – wie er auf dem Areopag mit den damaligen Denkern diskutierte.
Moment mal – wie ist denn das eigentlich? Sind unsere Zeitgenossen nicht schon viel gebildeter und feinfühliger als damals? Im Grunde genommen ist die Weltanschauung relativ ähnlich. Wir haben es weder damals noch heute mit einem echten Atheismus oder Unglauben oder Materialismus zu tun. Ein echter, reiner Materialismus ist in dem Universum, in welchem wir bekanntlich leben, nur sehr schwer aufrecht zu erhalten. Es ist unmöglich, ein in sich konsistenter Materialist zu sein. Von einem Stein könnte man es vielleicht noch annehmen, er wäre materialistisch, doch ein Mensch mit Bewusstsein? Äußerst unwahrscheinlich. Das Problem ist halt, dass Weltanschauungen nur selten reflektiert werden. Und so haben wir es sowohl bei Paulus auf dem Areopag, als auch in unserer nachchristlichen, neuheidnischen Gesellschaft in den meisten Fällen mit einer unreflektierten Spielart eines Pantheismus zu tun.
Nein, Pantheismus kann man nicht essen…
… auch wenn es fast ein wenig nach Pancakes klingt. Pantheismus ist die Vorstellung, dass alles, was existiert, ein Teil von Gott ist. Das ganze Universum ist eins mit Gott, aber nicht als persönlicher Gott, sondern irgendeine Art unpersönliche Natur, die einfach alles umfasst. Es gibt im Pantheismus keine Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf. Das ganze Universum mit allem darin ist miteinander verbunden und eine untrennbare Einheit.
Und hier kommt Paulus ins Spiel. Er hat wie kaum ein anderer verstanden, welche Auswirkungen diese Vorstellungen haben. Wir sind da ganz schnell in der Gefahr, dass wir die Ähnlichkeiten der Zeiten übersehen und meinen, dass der altheidnische Polytheismus etwas Archaischeres gewesen wäre. Doch heutige neuheidnische Spielarten des Pantheismus sind ebenso archaisch wie die damaligen. Um das zu verstehen, müssen wir versuchen, den griechisch-römischen Polytheismus zu durchdringen. Dieser Polytheismus war die Staatsreligion im römischen Großreich zur Zeit des Neuen Testaments. Ein Blick in die Schöpfungsmythen und Göttersagen zeigt, dass es viel widersprüchliche Erzählungen gab und dass diese Gottheiten eben nicht vor und über der Schöpfung stehen – vielmehr sind sie eine Art teilweise unsterbliche, teilweise nur schwer sterbliche höhere Menschen. Sie entstammen der Natur. Etwa bei Hesiod, der eine der verbreitetsten Schöpfungssage herausgegeben hatte, war am Anfang das Chaos, also ungeordnete Materie, die sich da selbst ordnete und daraus entstanden die Götter Gaia (Erde), Tartaros (Unterwelt), Nyx (Nacht), Erebos (Finsternis) und Eros (Liebe). Weitere Götter entstanden durch Paarung von diesen oder auch einfach durch Erschaffung durch diese ersten Götter.
Mit Paulus auf dem Areopag
Schon seit längerer Zeit gab es in der damaligen Kultur viel Kritik an diesem Polytheismus, eben gerade weil alle wussten, dass die Götter entweder der Natur entsprachen oder weil sie durch die Natur erschaffen und nichts weiter als etwas bessere Menschen waren. Und jetzt kam Paulus ins Gespräch mit Menschen, die bewusst Pantheisten waren, aber den pantheistischen Polytheismus ablehnten. Erinnern wir uns – für den Pantheisten ist das Göttliche überall in der Welt zu finden. Alles ist im Grunde genommen Gott. Alles ist miteinander verbunden und alles ist eine göttliche Einheit. Doch auch damals gab es schon unreflektierte Meinungen dazu.
Und Paulus wird nun auf den großen Platz gebracht und ausgefragt. Es ist interessant, womit Paulus nicht anfängt. Paulus geht nicht auf Johannes 3:16 ein, auf unseren liebsten Bibelvers, um das Evangelium zu erklären. Gut, das kann auch daran liegen, dass dieses Evangelium in dem Moment noch nicht geschrieben worden war. Vermutlich hat Johannes erst nach dem Tod von Paulus sein Evangelium geschrieben. Aber die Grundzüge von Johannes 3:16 finden wir bei Paulus auch. Immer und immer wieder. Doch hier wusste Paulus genau, dass seine Zuhörer das nicht verstehen. In Johannes 3:16 geht es um die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, es geht darum, dass Gott in die Welt kommen muss, um sie zu erlösen. Doch Menschen, die sich schon als Einheit mit dem Göttlichen wahrnehmen, als Einheit mit der Natur, die über allem steht, in Einheit mit dem Universum, verstehen nicht, dass Erlösung von außen kommen muss.
Paulus beginnt mit dem Gewissen
Wahrscheinlich ist es den wenigsten Bibellesern bewusst, weil wir uns so sehr daran gewöhnt haben, dass das Evangelium gottzentriert sein muss. Wir fangen mit Gott an. Es ist daran nichts grundsätzlich Falsches, aber es schafft in einer nachchristlichen Kultur des unreflektierten Pantheismus eine unnötige Mauer. Der Pantheist sieht sich als Teil Gottes, er ist sozusagen ein Ausfluss des Weltalls, des unpersönlichen All-Gottes. Paulus macht etwas grundlegend anderes. Er beginnt mit den Zuhörern. Er beginnt mit dem Gewissen, mit den Sehnsüchten, mit dem tiefsten inneren Verlangen der Menschen auf dem Areopag. Er beginnt mit der Kultur vor Ort. Er hat eine Götzenstatue gesehen, die „den unbekannten Göttern“ gewidmet ist. Und jetzt in einem rhetorisch kaum zu übertreffenden „Doublespeak“ lobt er die Athener für ihre tiefe Gottesfurcht, die so weit geht, dass sie sogar fürchten, sie könnten irgend einen Gott vergessen haben, und verspottet sie mit demselben Wort auch dafür. Und dann folgt eine längere Argumentation, die ungefähr auf Folgendes hinausläuft: Ihr habt eine Sehnsucht in eurem tiefsten Inneren, die tiefer geht als alles, was der heidnische Götzendienst und was der weltanschauliche Pantheismus euch bieten kann. Ihr sehnt euch nach der Erlösung durch einen persönlichen Gott, der der Schöpfung gegenübersteht. Diese Erlösung will ich euch heute verkünden. Und dann kommt das Evangelium.
Ganz spannend ist, dass das bei Paulus nicht nur auf dem Areopag so war. Es scheint mir, als hätte sich das durch seine ganze Evangelisationspraxis hindurchgezogen. Der Brief an die Römer ist eigentlich gleich aufgebaut. Er hat ja bekanntlich den Gemeinden in Rom geschrieben, um zu zeigen, dass er das richtige Evangelium verkündete, da er plante, Rom einst als Basis für die Evangelisierung Westeuropas bis nach Spanien zu nutzen. Und hier geht er genau so vor. Mit dem Unterschied, dass er in Rom sowohl Juden, die zu Christus gefunden haben, als auch ehemalige Heiden ansprechen wollte. Auch hier: Bevor der Mensch gewordene Gott ins Spiel kommt, geht es 2,5 Kapitel lang um den Menschen. Der Mensch mit seinen Versuchen, die Erkenntnis Gottes zu verdrängen. Der Mensch mit seinem Gewissen, das hin und her eiert zwischen überheblich und an sich selbst verzweifelt. Der Mensch mit seinem Mund, aus dem Gutes und Böses zugleich kommen kann. Und so weiter. Der Mensch. Die Sünde. Die Verzweiflung. Die Sehnsucht. Die Erlösung.
Der Marktplatz unserer Kultur
Wenn ich mir so unsere heutige, neuheidnische Kultur anschaue, fällt mir geradezu enorm auf, wie alle Kultur nach Erlösung schreit. Und um das zu sehen, müssen wir einen Schritt zurück machen, von der Johannes3:16-Brille weg. Ich würde einen anderen Vers aus dem Johannesevangelium vorschlagen, der uns da helfen kann: Größere Liebe hat niemand als die, dass einer sein Leben lässt für seine Freunde. (Johannes 15:13) Es klingt nun etwas allgemeiner, aber in diesem Vers hat Jesus Christus definiert, was Liebe ist. Unsere Kultur schreit nach Liebe und schreit nach Erlösung. Sie lebt zwischen der Überheblichkeit und der Verzweiflung an sich selbst. Ob ich jetzt auf die Songtexte von Taylor Swift oder neuere Romane und Filmserien schaue, überall zieht sich das hindurch. Und das sind gute Anknüpfungspunkte, die wir mit Jesus füllen können, wenn sich jemand mit diesen Fragen identifiziert. Jesus ist diese Liebe, diese Hingabe, Er hat Sein Leben gelassen für Seine Freunde. Er ist die Erlösung.
Zum Schluss ein paar meiner persönlichen Beispiele, die mir im Laufe der Jahre besonders aufgefallen sind. Das erste Mal, als es mir richtig bewusst wurde, war beim zweiten oder dritten Lesen von Stephen Kings „ES“ („It“). Ja, es ist schon ein älteres Werk, aus den 1980er-Jahren. Aber es hat mir wie kein anderes gezeigt, dass genau das Evangelium von der Liebe dessen, der sein Leben für die Freunde lässt, eigentlich in fast jeder spannenden Story im Mittelpunkt steht. Es gibt eine Gefahr. In der kleinen Stadt Derry in Maine werden Kinder ermordet. Eine Gruppe von sieben Kindern, die alle ihre Schwierigkeiten haben, nehmen den Kampf auf und schaffen es unter Lebensgefahr, das Monster zu besiegen und für einige Jahre Ruhe zu bekommen. Als sie erwachsen sind, beginnt das Ganze wieder. Diesmal gibt es sogar Tote unter den Freunden, die einander beistehen. Es sind oft die Schwachen, die im Kampf gegen das Böse besonders mutig werden. Gerade vor Kurzem sah ich mir die ZDF-Horrorserie „Hameln“ an. Auch hier gibt es wieder dasselbe. Um der Stadt zu helfen, um die Menschen vor dem bösen Wesen zu erlösen, braucht es drei gehandicappte Kinder, die unter Einsatz ihres Lebens kämpfen müssen. Von Frank Schätzings Roman „Der Schwarm“ schrieb ich vor einem Jahr schon mal (Link hier). Die Liste könnte man um hunderte von Werken ergänzen,
Wir müssen uns bewusst sein, dass das alles immer nur ein weltlicher Abklatsch ist, eine Art pantheistische Erlösungsstory, weil es der Mensch ist, der sich selbst erlöst. Aber die Menschen wollen es sehen, sie wollen diese wahre Liebe und Selbsthingabe, die Erlösung immer wieder und wieder und ohne Ende von Neuem sehen – mit ständig wechselnden Namen und Besetzungen. Unsere Kultur ächzt und stöhnt nach Erlösung. Echte Erlösung bringt nur Jesus Christus.
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