Gebet für die postevangelikale Bewegung

Inspiriert hat mich zu diesem Artikel ein sehr starker Text, den der Postevangelikale Christoph Schmieding im Eule-Magazin gepostet hatte. Dieser Text hat mich bewegt, und es ist nicht der erste von diesem Autor, der mich umtreibt. Schmieding schreibt sehr ehrlich, wohl durchdacht und auch ästhetisch schön zu lesen. Was mich dieses Mal besonders berührt hat, ist seine Fähigkeit zum selbstkritischen Nachdenken. Er kann zu den Grenzen seiner selbst und seiner Bewegung stehen. Wenn ich unsere bibeltreue Szene betrachte, fehlt mir diese Reflexion. Selbstkritik, die weder beschwichtigend wird, noch in eine Art Weltuntergangsstimmung verfällt, gibt es viel zu selten. Ich merke auch an mir selbst, dass ich noch einiges mehr zu lernen habe, um diesen task zu managen. Deshalb versuche ich es gar (noch) nicht erst, sondern bete. Für die postevangelikale Bewegung und indirekt auch für uns Bibeltreue.

Die postevangelikale Bewegung besteht zu einem großen Teil aus Menschen, die früher einmal zur evangelikalen Bewegung gehörten und diese dann verlassen haben – um Gott auf eine andere Art zu finden. Viele sind desillusioniert, verletzt, enttäuscht. Und das zu recht. Viel zu oft wurden sie nicht ernst genommen, ihre Zweifel und Fragen viel zu billig abgetan und manchmal auch dämonisiert („Zweifel sind vom Teufel“). Viel zu oft haben sie Gemeinde als theologische und politische Machtkämpfe erlebt. Viel zu oft haben sie den Hang zur ästhetischen Mittelmäßigkeit gesehen, der in evangelikalen Kreisen unbewusst propagiert wird. Viel zu oft war (und ist) Gemeinde mehr Hierarchie als Familie. Viel zu oft wurden sie von der Gleichgültigkeit gegenüber bestimmten Gruppen von Menschen (im Falle von Schmieding etwa der Künstler, die einen ganz eigenen Lebensstil haben) sensibilisiert. Viel zu oft sind sie mit ihren Ideen, Vorschlägen, Träumen und ihrer Leidenschaft in ihrem Umfeld angeeckt und auf taube Ohren gestoßen. So sind sie ausgezogen aus Evangelikalien und suchen etwas Neues, etwas Besseres. Manche von ihnen ganz ohne Gemeinschaft, andere gründen „Communities“, wieder andere wollen gar nichts mehr mit dem christlichen Glauben zu tun haben. Ich möchte das kommende neue Jahr dazu nutzen, um noch viel mehr für diese Menschen zu beten.

Ich bete darum, dass Gott ihnen ganz neu begegnet. Ich bete nicht, dass sie sich wieder „zu uns zurück“ bekehren. Manche werden das zweifellos tun, aber bis dahin muss sich in evangelikalen Gemeinden noch sehr viel ändern. Ich bete, dass sie Gott auf eine ganz neue Art und Weise sehen und erleben mögen. Ich bete, dass sie die Liebe Gottes neu erkennen mögen, und sehen, dass diese ihr Verständnis von Gott noch viel mehr erweitert und prägt. Ich bete, dass sie gesegnet werden und ihre Gemeinschaften wachsen mögen, gerade auch indem sie neue Menschen erreichen, die in unseren Gemeinden links liegen gelassen werden.

Ich bete darum, dass sie lernen können, ihre Verletzungen, die sie sich in evangelikalen Kreisen zugezogen haben, hinter sich zu lassen und – wichtiger noch – uns zu vergeben. Ich bete damit auch darum, dass wir Bibeltreuen offene Augen bekommen für das, was an ihnen geschehen ist und dass wir anfangen, auf sie zuzugehen und um Vergebung zu bitten. Ich spreche auch mir selbst das zu, denn ich sehe auch immer wieder, wie leicht etwas ausgesprochen oder geschrieben ist, was andere verletzen und kränken kann. Ich bete, dass hier eine größere Sensibilität entsteht, was unsere Worte in anderen Menschen bewirken können.

Ich bete darum, dass die Gesprächsbereitschaft zwischen den verschiedenen Gruppen von Menschen wächst und auch jeder bereit wird, von anderen zu lernen. Aufeinander zu hören ist eine der wichtigsten Disziplinen unserer Zeit, aber ebenso auch, die eigene Sichtweise gründlich durchdenken und kommunizieren zu können. Ich bete, dass die Diskussionen noch weiter zunehmen, diese aber von einem Geist der gegenseitigen Liebe und Gnade durchdrungen wird, sodass die Wahrheit nicht einfach nur als Wahrheit gesagt wird, sondern auch als etwas, was für das Gegenüber annehmbar ist. Ich bete, dass wir alle lernen, noch besser zu kommunizieren und von niemandem mehr verlangen, den Verstand an der Garderobe abzugeben oder Fragen und Zweifel zu unterdrücken und zu verteufeln.

Ich bete darum, dass dieser Austausch für alle Beteiligten noch viel fruchtbarer wird. Ich bete, dass der postevangelikale Sinn für Ästhetik uns Evangelikale aufrüttelt, dass wir uns ganz offen mit unserem Hang für Mittelmäßigkeit beschäftigen. Wir leben allzu oft noch in der Vergangenheit. Viele Jahrhundserte lang wurde die Kunst und Kultur von christlichen Künstlern dominiert. Inzwischen hat sich das um 180° gedreht, und sehr viel der besseren Kunst stammt von säkularen Künstlern. Wer sich jetzt darauf beruft, dass das alles vom Teufel sei (von Metallica über Hollywood bis zu Stephen King), muss sich damit abfinden, dass die „noch erlaubte“ Kultur so sehr geschrumpft ist, dass sie kaum mehr als mittelmäßige Abklatsche säkularer Kultur hervorbringen kann. (Wenn ich dazu komme, möchte ich nächstes Jahr noch eine etwas längere Kulturkritik schreiben, wo ich auf diese Punkte im Detail eingehen kann)

Ich bete darum, dass die ehrliche Selbstkritik in allen Lagern weiterhin zunimmt. Hierin bin ich richtig dankbar für die postevangelikale Bewegung: Sie hilft uns, dass wir unsere blinden Flecke erkennen können und uns noch besser in das verändern lassen können, was Gott mit uns vorhat. Ich bete auch, dass wir Evangelikalen im selben Sinne den Postevangelikalen einen Spiegel vorhalten können. Es gibt einiges, was wir richtig gut können, und das dürfen wir auch weiterhin betonen. Wir haben relativ stabile Verbände von Gemeinden, die zusammen etwas bewegen können. Damit meine ich zum Beispiel die weltweite evangelische Allianz, aber auch die Gemeindebünde, die mehr erreichen können als einzelne Communities allein. Wir haben ein gemeinsames Fundament, nämlich die Bibel, die in ihrer Gesamtheit Gottes Wort ist, wir haben gemeinsame Bekenntnisse, die wir nicht erst diskutieren müssen, bevor wir uns einig werden können. Wir haben eine gemeinsame Geschichte, die in der Zeit der Apostel beginnt und bis in alle Ewigkeit weiter andauert. Wir haben eine riesige Auswahl an guter Literatur (mehr als je zuvor), und vieles davon ist online frei erhältlich. Wir haben Buchverlage und Ausbildungsstätten für theologisch Interessierte. Wir haben unzählige Gründe für Dankbarkeit! Lasst uns Frieden suchen und ihm hinterher jagen!

Dieser Blog-Beitrag von Jonas Erne erschien zuerst auf Jonas Erne - Der Blog . Lies hier den Original-Artikel "Gebet für die postevangelikale Bewegung".

Über Jonas Erne

Ich bin Ehemann, Vater, Theologe, Gemeindereferent, Vielleser. Auf meinem Blog geht es um Gelesenes, aber auch um die Auseinandersetzung mit Fragen des täglichen Lebens, mit der Kultur und der Bibel. Hin und wieder gibt es auch kreative Texte wie Gedichte, kurze Geschichten und mehr.

10 thoughts on “Gebet für die postevangelikale Bewegung

  1. Danke für diesen Artikel! Aus drei Gründen:

    1) Schön, dass die Kolumne von Christoph auch von hier aus wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum es sie überhaupt gibt. (Daneben wollen wir mit der Kolumne das Phänomen „Postevangelikale“ auch so Leuten wie mir – liberalen Landeskirchlern, wenn ihr mögt – erklären.)

    2) Kehr biblipedia mit diesem Artikel (und leider viel zu wenigen sonst!) zu dem Anliegen zurück, das hier ursprünglich mal propagiert wurde: Den respektvollen Austausch mit Liberalen, Post-Evangelikalen und Atheisten zu suchen. Davon wünsche ich mir aus evangelikaler Richtung gerne mehr und dafür deutlich weniger billige Apologetik und die immer wieder gleichen Aufgüsse bekannter Inhalte.

    3) Gefällt mir am Ende auch der kritisch-positive Blick auf das, was Evangelikale einzubringen haben. Der zeugt nämlich davon, dass hier ein Gespräch auf Augenhöhe gesucht wird.

    Guten Rutsch und ein gesegnetes neues Jahr!

    Philipp Greifenstein
    Redakteur DIE EULE

    1. Schön, dass wir Leser von der EULE-Redaktion haben, von der wir m. E. noch einiges lernen können! Mir persönlich ist der Blick über den Tellerrand sehr wichtig. Aus Zeitgründen kommt bei mir leider oft auch dieser Austausch zu kurz, da muss ich mich selbst an der Nase fassen. Es ist zugegebenermaßen deutlich leichter und schneller getan, die immerzu gleiche Brühe alter Argumente der eigenen Bewegung („Blase“) aufzuwärmen. Insofern bin ich gespannt auf die kommenden Monate und hoffe, dass hier auch noch mehr in die Richtung wachsen kann.

      Ebenso ein gesegnetes Neues Jahr!

  2. Danke für das liebe Gebet, ich bete gerne mit – auch dasselbe für Evangelikale 😉 Und ergänze, dass wir von unserer Angst befreit werden, Fehler zu machen, nicht (mehr) richtig zu glauben oder von Gott abzufallen oder ein schlechtes Zeugnis zu sein. Gott ist so viel größer und liebt uns viel mehr als dass er wegen einem vermeindlichen Fehler von uns angepisst oder überfordert sei. Das war eine der Dinge, die mich aus der evangelikalen Szene weg getrieben haben, diese latente, allgegenwärtige Angst. Also lasst uns auch beten für den Mut zur Authentizität.

    Eine kleine Sache möchte ich allerdings zu dem Artikel anmerken. Ganz am Anfang: „Ich merke auch an mir selbst, dass ich noch einiges mehr zu lernen habe, um diesen task zu managen. Deshalb versuche ich es gar (noch) nicht erst, sondern bete.“ Es ist noch nie ein Meister vom Himmel gefallen, also nicht einfach es gar nicht erst versuchen, sondern genau deswegen versuchen, üben 🙂 Während des Gebets merkt man doch, dass du es kannst. Den Feinschliff bekommst du beim Üben.

  3. Folgende Anmerkungen dazu:
    Die aktuellen Probleme in der evangelikalen Welt haben ihre Ursache aus meiner Sicht nicht an einem zu viel, sondern an zu wenig bibeltreuer Theologie. Die von Dir genannten Punkte wie z.B. der Umgang miteinander oder ein falsches Leiterschaftsverständnis haben ja gerade das als Ursache.
    Auch ist es keine Frage, dass wir von der Schrift her aufgefordert werden klare Position einzunehmen und auch von der Schrift sich ein absolutes Verständnis ableiten lässt, wie z.B. dass Jesus der einzige Weg zu Gott ist. So kann aus Deiner Aussage „so dass die Wahrheit nicht einfach nur als Wahrheit gesagt wird, sondern auch als etwas, was für das Gegenüber annehmbar ist“ eine relativierender Wahrheitsbegriff abgeleitet werden. Sollen wir denn dem anderen nach dem Mund reden? Deshalb, wir müssen zurück zur Schrift und nicht möglichst einen ganz weit gesteckten Spielraum haben, was in der EAD ja gerade gemacht wird.
    Uns steht kein Urteil über das Heil des andere zu. Ich denke aber schon, dass wir die Aufgabe haben uns klar zur Schrift zu bekennen als Bibeltreue. Das hindert uns ja nicht daran mit den allen anderen Menschen freundlich umzugehen. Das sollte übrigens nicht nur gegenüber Postevangelikalen gelten :-). Ein freundlicher Umgang und eine gleichzeitige Unvereinbarkeit von theologischen Positionen schliesst sich doch nicht aus. Warum fühlen sich eigentlich gerade soviele Leute immer gleich persönlich angegriffen, wenn man eine andere Meinung wie sie vertritt. Das ist doch ganz normal. Ich habe schon den Eindruck, dass viele in der Evangelikalen Bewegung wollen, dass man ihr Verständnis mitträgt, ihre Haltung toleriert, egal um was es geht. Das muß ich aber nicht!! Ich kann freundlich aber bestimmt sagen: Das sehe ich anders. Ich kann nicht auf allen Seiten Wasser tragen und mich damit beliebig werden. Wem ich verpflichtet bin ist Jesus und seinem Wort. Davon soll ich mich abhängig machen und das mit Haut und Haaren. Wie das dann in die aktuelle Zeit umzusetzen ist ist dann erst der zweite Schritt.

    1. Das Problem der Evangelikalen besteht doch einfach darin, dass sie nicht sprachfähig sind. Was meine ich damit? Sie können lediglich ihre Position behaupten ohne sie erklären zu können. Kurz sie wirken wie ein Fremdkörper in der Gesamtheit des Lebens.
      Der Mangel ist also, dass man keine Erkenntnis hat – um sprachfähig zu werden.
      Es ist Unglaube und Faulheit der Gläubigen. Was widerum mangelnde Liebe bedeutet.

      1. Ein Christ muß und KANN nicht alles erklären. Alles erklären kann nur Gott.
        Als Christen dürfen wir IHM und seinem Wort einfach vertrauen. Weil das Evangelium so einfach ist und es Kinder schon verstehen können wirken die Christen wirklich oft „wie ein Fremdkörper in der Gesamtheit des Lebens.“
        Aber das ist nichts neues. Das war schon vor 2000 Jahren schon und das NT ist voll davon mit diesbezüglichen Aussagen.
        Das Evangelium ist für den Menschen der Aufklärung eindeutig nicht rational. Aber der Weg ins Himmelreich ist eben denen verheissen, die Gott kindlich vertrauen und nicht auf ihre eigene tolle Erkenntnis, ihren eigenen Fähigkeiten und ihren Stolz bauen. Es ist der Weg der Demut: In erster Linie Demut vor Gott und seinem Wort und dann daraus handeln. Alles andere führt in die Irre

        1. Man kann sehr, sehr viel erklären, wenn man denn Gott gehorsam wäre.
          Ich KANN das zum Beispiel!
          Dass die Bibel schon kleine Kinder verstehen könnten, glauben Sie doch selbst nicht! Wenn das so wäre, würden alle Christen einig sein. Dann brauchte man auch keinen Hl. Geist.
          In Ihrem Sinne habe ich das Wort „Fremdkörper“ nicht gemeint, sondern als eine Kontaktlosigkeit, als isoliertes „Etwas“.
          Ja, für die Aufklärung, wenn sie denn als Absolutsetzung materieller Gesetzmässigkeiten verstanden wird, ist Glaube nicht rational. Aber er ist rational, wen man weiß (und als fortgeschrittener Christ hat man dieses WISSEN), dass die Welt nicht allein aus Naturgesetzen besteht, sondern auch aus geistigen und seelischen Gesetzmässigkeiten.

          Niemand, der behauptet, er würde Gott „kindlich“ vertrauen, vertraut ihm wirklich kindlich. Das kindliche Vertrauen muss man sich erst erwerben: „Wenn ihr nicht WERDET, wie die Kinder….“, sagte Jesus.

          Sie zeigen nur Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit. Verzeihen Sie, wenn ich das so offen sage. es ist nicht bös gemeint.

      2. “ Sie können lediglich ihre Position behaupten ohne sie erklären zu können.“
        Falsch. Es sollte Dir zu Nachdenken geben, dass Du die Erklärungen nicht verstehst.
        „Kurz sie wirken wie ein Fremdkörper in der Gesamtheit des Lebens.“ Richtig, zumindest von Deiner Warte aus gesehen. Du stehst außerhalb, aber durchaus bei der Mehrheit.
        „Der Mangel ist also, dass man keine Erkenntnis hat – um sprachfähig zu werden.“ Das ist eine gelungene Selbsteinschätzung, der ich zustimme.
        „Es ist Unglaube und Faulheit der Gläubigen. Was widerum mangelnde Liebe bedeutet.“ Und das ist das Getrolle von jemandem, der sicherlich nicht aus dem Heiligen Geist spricht. Es ist sicherlich keine mangelnde Liebe, wenn man einen gesunden Unglauben gegen die Lehren eines M.R. pflegt.

    2. Ich kann Dir da nur zustimmen. Das verbindliche Wort Gottes sollte verbindlicher in unserem Leben sein. Wir sollten mehr in der Liebe leben, ohne zu relativeren und ein Knecht der Gefühle werden. Und wir sollten mehr in der Wahrheit leben, ohne gesetzlich zu werden. Und wer sich in der Schrift auskennt, weiß, daß sich die Bibel gegen Relativismus und Gesetzlichkeit richtet.

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