Das Bibelverständnis der apostolischen Väter

Dieses Thema wird auch behandelt im Podcast Bibel-live #5 Der Gamechanger – Bibelverständnis Teil 2

Unter dem Oberbegriff „Apostolische Väter“ versteht man im Allgemeinen eine Sammlung von Schriften aus der ersten nachapostolischen Generation, geschrieben von Kirchenleitern, die sehr wahrscheinlich noch persönlichen Kontakt mit den von Jesus berufenen Aposteln hatten.

In dieser Zeit begann sich auch das Neue Testament zu formen (ohne dass es diesen Begriff damals schon gegeben hätte). Umso spannender ist die Frage: Welches Bibelverständnis hatten diese Leute? Wie sind sie mit den Schriften des Alten Testaments umgegangen? Und vor allem: Wie haben sie die Texte eingeschätzt, die wir heute im Neuen Testament vorfinden? War das für sie damals auch schon heilige Schrift?

Aufschluss zu diesen wichtigen Fragen geben vor allem 4 Schriften aus dem Kreis der apostolischen Väter:

  • Der Clemensbrief an die Korinther stammt vermutlich noch vom Ende des ersten Jahrhunderts. Clemens war etwa in den Jahren 91-101 Bischof von Rom (als zweiter oder dritter Nachfolger von Petrus).
  • Ignatius war Bischof in Antiochien. Etwa im Jahr 110 verfasste er auf dem Weg zu seinem Martyrium in Rom 7 Briefe an verschiedene Gemeinden sowie an Bischof Polykarp von Smyrna.
  • Polykarp lebte von ca. 69 bis 155 n.Chr. Ihm wurde vor allem ein guter Kontakt zum Jünger Johannes nachgesagt. Überliefert wurde von ihm ein Brief an die Gemeinde in Philippi, den er in der Zeit um das Jahr 120 geschrieben hat.
  • Auch Papias von Hierapolis soll ein Schüler des Apostels Johannes und zugleich ein Freund Polykarps gewesen sein. Von seinen 5 Büchern mit Auslegungen von Jesusworten, die er um das Jahr 120 verfasst hat, sind uns leider nur einzelne Fragmente überliefert.

Was lernen wir nun aus diesen Texten über das Bibelverständnis der Kirchenleiter aus der unmittelbaren nachapostolischen Zeit?

Höchste Wertschätzung und Unfehlbarkeit des Alten Testaments

Zunächst fällt auf: Der 1. Clemensbrief läuft geradezu über von Zitaten aus dem Alten Testament. Sie machen ein gutes Viertel des gesamten Textes aus! Das zeugt nicht nur von genauer Kenntnis sondern vor allem von höchster Wertschätzung für diese Texte. Tatsächlich hält Clemens sie für unfehlbare, heilige Worte Gottes, die vom heiligen Geist eingegeben sind:

„Die heiligen Schriften kennt ihr, Geliebte, und zwar gut, und ihr habt euch vertieft in die Worte Gottes.“ (1.Cl. 53, 1)

Die heiligen Schriften, die wahren, die vom Heiligen Geist eingegebenen, habt ihr genau durchforscht. Ihr wisst, dass nichts Unrechtes und nichts Verkehrtes in denselben geschrieben steht.“ (1.Cl. 45, 2+3)

Entsprechend leitet Clemens manche AT-Zitate ein mit der Formel:

Es sagt nämlich der Heilige Geist: …“ (1.Cl. 13,1)

Clemens rechnet sogar damit, dass Christus im Alten Testament spricht:

„All dies befestigt der Glaube an Christus. Denn auch er selbst redet durch den Heiligen Geist uns also an: …“ (1.Cl. 22, 1) Es folgt ein langes Zitat aus Psalm 33.

Die Schriftautorität der neutestamentlichen Texte

Für Clemens waren auch die Paulusbriefe vom Heiligen Geist inspiriert:

„Nehmt den Brief des seligen Paulus, des Apostels. Was hat er euch im Anfang seiner Predigt geschrieben? Wahrhaft vom Geist angeregt, hat er euch belehrt über sich selbst und über Kephas und über Apollo, weil ihr auch damals Parteien gebildet hattet.“ (1.Cl. 47, 1-3)

Besonders bemerkenswert ist im Clemensbrief ein gemischtes Bibelzitat, das er einleitet mit der Formel „…was geschrieben steht; es sagt nämlich der Heilige Geist: …“. Das Zitat selbst enthält eine Kombination von Worten aus Jeremia 9, 23+24 und der typischen Paulusformulierung „Wer sich rühmt, rühme sich im Herrn“ (1.Kor.1,31; 2.Kor.10,17). Offenbar sah also schon Clemens die Paulusbriefe als inspirierte „Schrift“ an.

Ganz eindeutig ist dies bei Polykarp gut 20 Jahre später der Fall. Er schreibt:

„Ich vertraue zu euch, dass ihr in den heiligen Schriften wohl bewandert seid; … Nur das sage ich, wie es in diesen Schriften heißt: „Zürnet, aber sündiget nicht“, und: „Die Sonne soll nicht untergehen über eurem Zorne.“ (12,1) Dabei bezieht sich das erste Schriftzitat auf Psalm 4,5, das zweite Schriftzitat auf Epheser 4,26. Hier wird also dem Paulustext genau die gleiche Schriftautorität beigemessen wie den Schriften des Alten Testaments.

Dazu muss man wissen, dass der Polykarpbrief ebenso wie der Clemensbrief prall gefüllt ist mit Bibelzitaten. Allerdings sind bei Polykarp bereits Zitate aus neutestamentlichen Texten vorherrschend. Er zitiert aus nicht weniger als 19 (!) der 27 neutestamentlichen Bücher, darunter die 4 Evangelien, die Apostelgeschichte, fast alle Paulusbriefe, der Jakobusbrief, der 1. Petrusbrief und 2 Johannesbriefe. Diese Bücher machen bereits etwa 85% Prozent des neutestamentlichen Textbestands aus! Demnach war der größte Teil des neutestamentlichen Textbestands schon in der ersten nachapostolischen Generation Grundlage und Maßstab für den Glauben der Christen.

Die einzigartige Autorität der Apostel

Ein weiterer wichtiger Befund ist: Keiner der apostolischen Väter wollte sich selbst oder seine Schriften mit den Texten der Apostel gleichstellen. So schrieb Ignatius in seinem Brief an die Trallianer:

Nicht soweit glaubte ich (gehen zu dürfen), dass ich, ein Verurteilter, wie ein Apostel euch befehle.“ (3,3b)

Das bedeutet: Obwohl er selbst ja Bischof war, hatten für ihn ausschließlich die Apostel uneingeschränkte Autorität. Genau gleich äußert sich Polykarp:

„Denn weder ich noch sonst einer meinesgleichen kann der Weisheit des seligen und berühmten Paulus gleichkommen, der persönlich unter euch weilte und die damaligen Leute genau und untrüglich unterrichtete im Worte der Wahrheit, der auch aus der Ferne euch Briefe schrieb, durch die ihr, wenn ihr euch genau darin umsehet, erbaut werden könnt in dem euch geschenkten Glauben.“ (3,2)

Entsprechend hielt der renommierte Neutestamentler Theodor Zahn fest: Die Möglichkeit, „dass ein Apostel in seinen an die Gemeinden gerichteten Lehren und Anweisungen geirrt habe könnte, hat offenbar im Vorstellungskreis der nachapostolischen Generation keinen Raum gehabt.“[1]

Klare Kriterien für die Kanonbildung

Diese Linie der unfehlbaren apostolischen Autorität wurde auch später in allen Diskussionen um die noch offenen und strittigen Kanonfragen beibehalten. Um entscheiden zu können, ob ein Text Schriftautorität besaß oder nicht (und ob er somit im Gottesdienst der Gemeinde vorgelesen werden durfte oder nicht) wurde immer gefragt:

  • Stammt der Text von einem Apostel oder zumindest aus der apostolischen Generation?
  • Stimmt er mit den von Beginn an unumstrittenen apostolischen Schriften und den in den Evangelien niedergelegten Lehren Jesu überein?

Wenn diese Fragen nicht mit „ja“ beantwortet werden konnten, dann wurden die Schriften zwar gegebenenfalls zur privaten Lektüre empfohlen, aber nicht zur Lesung im Gottesdienst. Damit wurde von Beginn an eine klare Grenze markiert zwischen heiligen, unfehlbaren Texten mit Schriftautorität und fehlerhaften Texten nachfolgender Theologen und Kirchenleiter.

Die Evangelien gehen auf Apostel zurück

Deshalb war auch früh die Frage von Bedeutung: Haben die Evangelien apostolische Autorität? Der Kirchengeschichtler Eusebius zitierte aus den ihm noch zugänglichen Büchern des Papias von Hierapolis folgende Aussage:

„Markus hat die Worte und Taten des Herrn, an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau, allerdings nicht ordnungsgemäß, aufgeschrieben. Denn nicht hatte er den Herrn gehört und begleitet; wohl aber folgte er später, wie gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, nicht aber so, dass er eine zusammenhängende Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete, wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge: nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder sich im Berichte keiner Lüge schuldig zu machen.“

Das Markusevangelium hatte also Autorität, weil es letztlich auf den Apostel Petrus zurückging. Das Matthäusevangelium schrieb Papias dem Jünger Matthäus zu. Ob er auch das Evangelium des Paulusbegleiters Lukas und das Johannesevangelium kannte, wissen wir nicht. Aber im Zusammenhang mit den zahlreichen neutestamentlichen Zitaten im Brief Polykarps wird deutlich: Diesen vier Evangelien wurde schon früh apostolische Autorität zugesprochen. Spätestens Ende des zweiten Jahrhunderts war die Kanonizität dieser 4 Evangelien trotz der Existenz vieler apokrypher Evangelien eindeutig geklärt.

Fazit: Die Heiligen Schriften als solides Fundament der Kirche

Die christliche Kirche hatte somit schon in der ersten nachapostolischen Generation neben den mündlichen Überlieferungen einen soliden Textbestand, um sich an der Lehre Jesu und der Apostel orientieren zu können. Das feste Vertrauen in die volle Autorität sowohl der alttestamentlichen Texte als auch der Schriften der Apostel und der Evangelien schuf eine solide Grundlage, um die schnell um sich greifenden Irrlehren (Doketismus, Gnosis, Marcionismus…) in die Schranken weisen, um Glaubensbekenntnisse entwickeln[2] und wichtige theologische Fragen entscheiden zu können.

(Unterstreichungen in den Zitaten wurden vom Autor dieses Artikels nachträglich vorgenommen)


[1] Theodor Zahn: Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd. 1: Das Neue Testament vor Origenes, Teil 1, Erlangen 1888, S. 805.

[2] In seinem sehr empfehlenswerten Artikel „xxx“ weist xxx nach, dass zum Beispiel das apostolische Glaubensbekenntnis schon weitgehend in den Schriften des Kirchenvaters Irenäus dargestellt ist und dass dieser die Inhalte aus den apostolischen Schriften abgeleitet hat.

Dieser Blog-Beitrag von Markus Till erschien zuerst auf aufatmen in Gottes Gegenwart . Lies hier den Original-Artikel "Das Bibelverständnis der apostolischen Väter".

Über Dr. Markus Till

Evangelisch landeskirchlicher Autor, Blogger und Lobpreismusiker mit pietistischen Wurzeln und charismatischer Prägung

6 thoughts on “Das Bibelverständnis der apostolischen Väter

  1. Es ist ja eigentlich schön, dass du dir so viel Mühe gibst, das Bibelverständnis der Apostolischen Väter zu erläutern. Es fragt sich nur, was du damit bezwecken willst. Diejenigen, die das vielleicht erreichen soll, interessieren sich doch gar nicht für das, was die Altvorderen über die Bibel gedacht haben. Das ist für die neuen verkopften Bibellehrer und Theologen doch überholt und nicht mehr zeitgemäss.
    Erst wenn die Worte der Bibel in einem Menschen lebendig werden, versteht er auch ihren Sinn. Was heisst das? Gottes Wort muss vom Kopf in unsere Herz gelangen, damit es Frucht bringt. Dahin zu arbeiten und zu beten, das wäre eine wichtige Aufgabe für Christen, Prediger Priester usw. Leider sieht es hier auch mau aus.

    1. Volle Zustimmung!! Und es mutet daher eher seltsam an, dass es auf die Frage nach der Zusammenarbeit mit Christen außerhalb der EAD durch Bibel und Bekenntnis keine Antwort gibt. Ist das ein Tabuthema bei B+B ;-)? Ich weiss schon, dass bei Nestvogel & Co auch nicht alles richtig läuft, aber in vielen Teilen geschieht auch dort sehr gute theologische Arbeit. Die evangelikalen Gemeinden außerhalb der EAD werden auf ca. 250 000 – 300 000 geschätzt und sind in der Regel konservativ ausgerichtet. Warum dann diese Gemeinden und ihre Theologie als mögliche Partner scheinbar vor der Türe bleiben müssen bei so vielen Übereinstimmungen ist für mich nicht nachvollziehbar. Wenn B+B die theologischen Themen wirklich SO wichtig sind kann doch innerhalb oder außerhalb der EAD kein Kriterium sein.

    2. Genau! Deshalb sagte auch der in den Zwanziger Jahren bekannte christliche Sadhu Sundar Singh, dass er Suchende niemals zu Theologen schicke, da diese nur den Buchstaben und „Kopfgeburten“ vermitteln könnten.
      Eigentlich kann nur der wirklich lehren, der aus dem veränderten Herzen lehrt. Zum Glück durfte ich diesen Weg geführt werden, sodass ich jedem ernsthaft Suchenden wirkliche Seelen- und Geistesnahrung bieten kann, die aus lebendigem Christsein erwachsen sind:
      http://manfredreichelt.wordpress.com

    3. Es geht in dem Artikel nicht um Bibelverständnis, sondern um die Herkunft und Entstehungszeit der Texte des NT und welche Schriften von den ersten Christen zu den autoritativen Schriften gezählt worden sind. Letztendlich war das eine frühe Kanonisierung.

      Nun kann man daraus Rückschlüsse ziehen, wie die Altvorderen den Texten vertrauten. Hier und da waren ja durchaus noch Zeitzeugen der in den Evangelien geschilderten Ereignisse am leben – die hätten den Schriften widersprochen, wenn es sich denn nicht so ereignet hätte.
      Hinsichtlich Paulus wird dessen Lehrautorität voll und ganz anerkannt.

      Wir sind dabei noch nicht im Thema, wie denn die Texte zu verstehen sind – also Fragestellung, was uns z.B. das Gleichnis von den 10 Jungfrauen mit den Ölflaschen denn sagen soll.

      Aber insgesamt ist damit klar, wenn man die Entstehungs- und Anerkennungsgeschichte der Texte kennt, dass diese Vorrang vor allen menschengemachten Auslegungen und Sonderlehren haben.

      Natürlich wurden auch die Wunder akzeptiert, die der Logik widersprechen – die Verdummung des Menschen, der meint, alles besser wissen zu müssen, kam dann mit Floskeln wie dem sich entwickelndem „Verstandesbewusstsein“.

  2. Viele Fehlentwicklungen des Christentums sind auch dadurch entstanden, dass man mit der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit nicht Schritt hielt.
    Um die Zeitenwende war es noch angebracht auf Autorität zu setzen, aber spätestens seit dem Mittelalter bildete sich das Verstandesbewusstsein heraus, das nur das als gültig anerkennen kann, das der Logik nicht widerspricht.
    Hinzu kam, dass man in neuerer Zeit mit anderen „Heiligen Schriften“, wie der Bhagavadgita, den Upanishaden oder dem Koran bekannt wurde. In Auseinandersetzung mit diesen oder mit der modernen Wissenschaft ist es deshalb ein Zirkelschluss mit dem Verweis auf „heilige Texte“ die Richtigkeit eines Glaubens festzumachen zu wollen
    .
    Glaube kann immer nur an der Realität festgemacht werden. Dazu ist es nicht nötig auf alte Texte (auch noch das Alte Testament!) zu verweisen.
    Der universale Anspruch des Christentums ist nur gerechtfertigt, wenn das Christentum etwas bringt, dass die tatsächlichen Probleme des Menschen zu lösen vermag. Und das ist der Fall! :
    https://manfredreichelt.wordpress.com/2016/10/15/jesus-der-christus-traditionslos/
    Quälen wir deshalb die Menschen nicht länger damit, sich erst in eine alte Kultur einleben zu müssen (was sowieso nicht gelingt) um sie zu Christus zu bringen, sondern konzentrieren wir uns auf gelebtes Christentum, das sich im Alltag bewährt!

  3. Danke, Markus,
    dass du so eine Art Grundlagenarbeit machst, die Glaubwürdigkeit der Bibel heute wie vor 2000 Jahren darzulegen.
    Das insbesondere, wo so viele Zündler und Deutler und Relativierer unterwegs sind, viele ausgestattet mit Professoren- und Doktortiteln, das Madaillon des Zweiflers um den Hals hängend, lechzend nach Wohlgefallen und Annahme der Bereitstehenden, Bereitwilligen.
    Danke.

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