
Der Ruf und die Einheit der Evangelikalen haben erheblich gelitten, seit bekannt wurde, dass der Wahlerfolg von Donald Trump zu einem nicht unerheblichen Teil auch auf die Unterstützung vieler evangelikaler Christen zurückzuführen war. Was ist da nur schiefgelaufen? Und was hätten evangelikale Leiter anders machen müssen, um diesen Schaden zu vermeiden?
Ein verbreitetes Narrativ lautet: Die Evangelikalen hätten sich eben viel früher und vor allem sehr viel deutlicher von Trump distanzieren müssen. Die breite Unterstützung Trumps zeigt doch, wie verführbar und naiv ein Großteil der Evangelikalen sei. Aber stimmt diese Erzählung auch?
In einer aktuellen Analyse erzählt der bekannte Autor und Professor für Bibel- und Religionswissenschaften Carl R. Trueman eine sehr viel differenziertere Geschichte. „Das Scheitern der evangelikalen Eliten“ (so die Überschrift seines Artikels) besteht für ihn vor allem auch in einer akuten Fehleinschätzung der aktuellen kulturellen Entwicklungen. Zudem beklagt er die Bereitschaft evangelikaler Leiter, notfalls auch zentrale christliche Überzeugungen zu opfern und sich von Glaubensgeschwistern zu distanzieren, um von den gesellschaftlichen Eliten akzeptiert zu werden. Wie kommt Trueman zu dieser provozierenden These?
Trueman beginnt zunächst mit einer Beobachtung, die in der Kirchengeschichte immer wieder gemacht werden kann:
„Es gibt Zeiten in der Geschichte, in denen das Christentum seinen Platz in der Gesellschaft bedroht sieht. Wenn es sich an den Rand gedrängt sieht, entstehen zwei Versuchungen. Die erste ist ein wütendes Anspruchsdenken, ein Impuls, die ganze Welt anzuprangern und sich in die kulturelle Isolation zurückzuziehen. Im frühen 20. Jahrhundert bot der amerikanische Fundamentalismus ein gutes Beispiel für diese Tendenz … Die zweite Tendenz ist subtiler und verführerischer. Während sie den Anschein erweckt, für die Wahrheit zu kämpfen, passt sie das Christentum dem Zeitgeist an. Wenn fundamentalistisches Fäusteballen die Versuchung der weniger gebildeten Masse ist, dann übt Anpassung auf die einen Reiz aus, die einen Platz am Tisch der gesellschaftlichen Elite suchen. Und diese Elite-Aspiranten geben oft den Massen die Schuld, wenn ihre Einladung an den hohen Tisch nicht zustande kommt. In den letzten Jahren hat Amerika viele Beispiele für beide Tendenzen erlebt. Wir haben die Wut der Evangelikalen erlebt, die glauben, dass ihnen das Land gestohlen wird, und wir haben die herablassende Haltung derer gesehen, die ihre weniger weltgewandten Glaubensbrüder für die Misere der Kirche und der Nation verantwortlich machen. Das Buch Prediger erinnert uns daran, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt.“
Also alles schon mal dagewesen? Um diese These zu belegen, wirft Trueman einen Blick zurück auf einen bekannten deutschen Theologen:
„Friedrich Schleiermacher wird nachvollziehbar als der Vater der modernen Theologie bezeichnet, was in Wirklichkeit die moderne liberale protestantische Theologie meint. Liberale Protestanten leisteten Pionierarbeit mit der Taktik, Kritiker als “anti-modern” zu bezeichnen, anstatt auf ihre Argumente einzugehen. … Als Schleiermacher ein junger Mann war, beherrschte ein älterer, konfessioneller Protestantismus noch die institutionalisierte Kultur in seinem Heimatland Deutschland. Aber schon damals befand sich die Gesellschaft im Umbruch, und das Christentum verlor unter den Eliten an Boden. … Die Theologie, einst die Königin der Wissenschaften und die Krone der universitären Ausbildung, wurde durch das Denken der Aufklärung grundlegend in Frage gestellt. Der Empirismus von Denkern wie David Hume stellte die traditionellen Beweise für die Existenz Gottes und die Glaubwürdigkeit von Wundern in Frage. Beeinflusst von Hume, schloss Immanuel Kant jede Möglichkeit aus, transzendente Wirklichkeiten zu erkennen. Die kant‘sche Philosophie, die rasch die deutsche intellektuelle Welt beherrschte, machte es in der Folge unmöglich, den klassischen christlichen Theismus aufrechtzuerhalten. … Zur gleichen Zeit stellte die Romantik das Gefühl in den Mittelpunkt des Menschseins. Auch dies stand im Gegensatz zu den überlieferten Formen des Christentums mit ihren Dogmen und systematischen Theologien voller klarer Argumente und feiner Unterscheidungen. … In diesem Kontext verfasste Schleiermacher sein brillantes Werk „Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“. Er bestritt nicht Kants strikte Ablehnung der Metaphysik, die besagt, dass wir die Offenbarung Gottes nicht kennen können, und damit bestritt er die Gültigkeit christlicher Dogmatik. … Gott, so betonte Schleiermacher, ist kein Postulat. Er ist vielmehr das Objekt unserer intensivsten Gefühle. Religion ist also eine Sache der Gefühle, nicht der Vernunft. … Aufschlussreich ist jedoch nicht so sehr Schleiermachers Argumentation als vielmehr seine Strategie. Anstatt die christliche Orthodoxie zu verteidigen, räumt er das Terrain, das die kultivierten Verächter der Religion beanspruchen. Er definiert das Christentum neu, um es mit den Annahmen seiner Kritiker in Einklang zu bringen. … Indem er den dogmatischen Glauben früherer Generationen in eine Religion der Gefühle und Intuitionen verwandelte, konstruierte er die christlichen Lehren als Ausdruck religiöser Gefühle und nicht als Aussagen über die objektive Wahrheit.“
Trueman sieht in der Geschichte Schleiermachers mehrere Parallelen zur Gegenwart. Die erste Parallele ist, dass das Christentum sich heute ebenso in der Defensive befindet wie damals:
„Schleiermacher ist längst tot, ebenso wie das Publikum der Aufklärung, das er ansprechen wollte. Aber das Problem des Christentums und seiner kultivierten Verächter ist nicht verschwunden. Es ist in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher hervorgetreten. Die mächtigen Kräfte des Säkularismus, des metaphysischen Materialismus und des Szientismus haben neben anderen Faktoren die Religion aus ihren früheren Einflussbereichen vertrieben. Man braucht nur darauf hinzuweisen, dass fast alle privaten Universitäten in den Vereinigten Staaten von religiösen Gruppen gegründet wurden und lange Zeit in einer religiösen Tradition verankert waren, um dann in den letzten beiden Generationen säkular zu werden.“
Die zweite Parallele, die Trueman zwischen Schleiermacher und der Gegenwart zieht, ist der Reflex christlicher Leiter, das Christentum so umzuformen, dass es gesellschaftsfähig bleiben kann: „Als Reaktion auf diesen Druck hat das Christentum wieder einmal diejenigen hervorgebracht, die versuchen, seine Verächter davon zu überzeugen, dass der Glaube nicht schädlich ist für die feine Gesellschaft.“ Trueman belegt dies zunächst anhand einer Schilderung aus den 1990er Jahren, als führende Köpfe der evangelikalen Bewegung (namentlich nennt er die Historiker Mark Noll und George Marsden) in den USA versuchten, mit der Unterstützung der Zeitschrift Christianity Today „ein Christentum zu zeichnen, das die Exzesse des Fundamentalismus vermeidet und gleichzeitig das orthodoxe Christentum verteidigt.“ Die Kernthese war, „dass der amerikanische Evangelikalismus gelähmt war durch sein Engagement für unhaltbare Positionen, denen es an intellektueller Glaubwürdigkeit mangelte. Dadurch zog sie die Verachtung gebildeter Menschen außerhalb der Kirche auf sich. Schlimmer noch, der Mangel an intellektuellen Standards machte nachdenklichen Menschen innerhalb der Kirche das Leben schwer.“ Konkret ging es um Überzeugungen des Dispensationalismus und der buchstäblichen Sechs-Tage-Schöpfung, die „weder vor den Regeln der Vernunft gerechtfertigt werden könnten noch für einen streng orthodoxen christlichen Glauben notwendig seien.“
Trueman kommentiert: „Anders als Schleiermacher sind Noll und Marsden darauf bedacht, vollmundige Bekenntnisse zum orthodoxen christlichen Glauben aufrechtzuerhalten. Und anders als bei Schleiermacher finde ich ihre Argumente überzeugend. Der Glaube an den heilbringenden Tod und die leibliche Auferstehung Jesu Christi untergräbt in keiner Weise die intellektuelle Redlichkeit. … Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass die außerordentlich positive Aufnahme der Ideen von Noll und Marsden darauf zurückzuführen ist, dass die an den Universitäten ausgebildeten Evangelikalen in den 1990er Jahren aufgewühlt waren und sich nach Beruhigung sehnten. Die Universitäten, die sie besuchten, sagten ihnen zunehmend, dass ihr Glaube disqualifizierend sei. Noll und Marsden argumentierten anders und zeigten, dass ein gläubiger Mensch, der Selbstkritik übt und unhaltbare Überzeugungen verwirft, voll am modernen intellektuellen Leben teilnehmen kann.“
Die Thesen von Noll und Marsden schienen anfangs gute Früchte zu tragen. Ihre Doktoranden erhielten Stellen an Hochschulen und Universitäten. Als Musterbeispiel diente viele Jahre der von Obama eingesetzte evangelikal geprägte Leiter des Nationalen Gesundheitsinstituts Francis Collins. Gerade an seinem Beispiel macht Trueman jedoch deutlich, wie schwer es offenkundig ist, als evangelikaler Christ in solche Positionen aufzusteigen, ohne seine christlichen Werte zu kompromittieren. Collins ist dies offenbar nicht gelungen. Und Trueman stellt fest, dass es heutzutage kaum noch möglich ist, konfliktfrei an wichtigen christlichen Überzeugungen innerhalb der intellektuellen Eliten festzuhalten:
„Obwohl Marsden und Noll ihre Argumente vor weniger als dreißig Jahren vorbrachten, fällt mir auf, dass ihre Argumente aus einer längst vergangenen Zeit stammen. Die Vorstellung, dass eine Person, die sich zu Ehrlichkeit und Integrität in der Wissenschaft bekennt, Mitglied der heutigen Universitäten und anderer führender Institutionen werden kann, ist rückblickend betrachtet naiv. … Letztes Jahr habe ich am Grove City College einen Kurs über historische Methoden gehalten. Einer unserer Texte war Marsdens ‘The Outrageous Idea of Christian Scholarship’. Die Reaktion der Studenten auf das Buch war beeindruckend. Obwohl sie Marsden für einen nachdenklichen und engagierten Autor hielten, waren sie der Meinung, dass sein Argument – dass Christen einen Platz am Tisch der akademischen Welt finden könnten, wenn sie gute Gelehrte seien und ihre Kollegen mit Respekt behandelten – im heutigen Kontext nicht überzeugend ist. Kein Student glaubt heute, dass ein Professor einer Forschungsuniversität, der höflich und respektvoll zu einem schwulen Kollegen ist, auch seine Einwände gegen die Homo-Ehe äußern darf. So funktioniert das System nicht mehr.“
Aber warum ist das so? Trueman legt dar, dass die führenden Evangelikalen in ihrem Versuch, das Christentum in den intellektuellen Eliten gesellschaftsfähig zu machen, einen entscheidenden Punkt übersehen haben, der in den letzten 30 Jahren immer deutlicher zutage getreten ist:
„Das Hochschulwesen ist heute weitgehend das Land der „Woken“. Man mag ein brillanter Biochemiker sein oder ein profundes Wissen über die minoische Zivilisation haben, aber jedes Abweichen von der kulturellen Orthodoxie in Bezug auf Rasse, Sexualität oder sogar bei anderen Begriffen wird sich bei Einstellungs- und Bleibeverhandlungen als wichtiger erweisen als Fragen nach der wissenschaftlichen Kompetenz und sorgfältiger Forschung. … Meine Studenten können die Realität sehr genau einschätzen. Die kultivierten Verächter des Christentums von heute halten dessen Lehren nicht für intellektuell unplausibel, sondern für moralisch verwerflich. Und das war schon immer zumindest teilweise der Fall. Das war der Punkt, den Noll und Marsden übersehen haben – auch wenn er in den neunziger Jahren am Wheaton College oder an der Universität von Notre Dame vielleicht nicht so offensichtlich war wie heute fast überall im Hochschulbereich.”
Damit ist Trueman beim Kern seiner These angelangt: Das Christentum ist mit zentralen Denkweisen der vorherrschenden Kultur schlicht unvereinbar! Trueman führt dazu aus:
„Das Problem mit dem Ansatz von Noll und Marsden … besteht darin, dass die moderne intellektuelle Kultur nie interessiert war an einer moralisch neutralen Praxis der Weiterentwicklung der Regeln der intellektuellen Forschung und Debatte. … Die Aufklärung rebellierte nicht nur gegen die alten Vorstellungen über das Wissen, sondern auch gegen die moralischen Lehren des Christentums. Der Mainstream des modernen Denkens hat die Lehren von der Sündhaftigkeit des Menschen und der Sühne Christi als unvereinbar mit der menschlichen Autonomie und Freiheit angesehen. Dieser moralische und politische Einwand gegen das Christentum ist das beherrschende Motiv der heutigen kultivierten Verächter. … Unsere postmoderne Welt sieht alle Wahrheitsansprüche als Machtansprüche, alle unverrückbaren Denkkategorien als manipulativ an – und die Aufgabe der akademischen Welt ist es, die Studenten dazu zu erziehen. … Wer sich der kritischen Rassentheorie oder der Gender-Theorie widersetzt, nimmt eine moralische Position ein, die von den Wichtigtuern der Kultur von vornherein als unmoralisch angesehen wird. Die kleinste Andeutung von Opposition disqualifiziert einen von der Aufnahme in die feine Gesellschaft.“
Es ist also primär die wachsende Ablehnung zentraler christlicher Lehren durch die heutige Kultur, die das Christentum zunehmend zum Außenseiter macht. Das hat laut Trueman aber nichts daran geändert, dass führende Evangelikale weiterhin versuchen, das Christentum gesellschaftsfähig zu machen: „In christlichen Kreisen, insbesondere in den Leitungsebenen und den damit verbundenen Institutionen, ist der Wunsch, die kultivierten Verächter der Religion zu besänftigen, zu einer mächtigen Kraft geworden. … Das bedeutet nicht mehr nur, dass man sich an die Regeln des akademischen Diskurses hält, wie es Noll und Marsden wohlüberlegt getan haben. Es bedeutet, die woke Empörung zu teilen. Und es bedeutet, wo immer möglich, die Schuld für das Versagen des Christentums, elitären Standards zu genügen, anderen Christen zuzuschieben, typischerweise denen, die politisch rechts von den “guten Christen” stehen und die wirtschaftlich und gesellschaftlich unter ihnen stehen. Leider hat das schleiermacher‘sche Bestreben, die kultivierten Verächter zu beschwichtigen, die … Tendenz verstärkt, die “fundamentalistischen” Massen zu verhöhnen. Die Spaltung in der amerikanischen Gesellschaft zwischen den gebildeten Menschen, die relevant sind, und den “ungebildeten” Menschen, die nicht relevant sind, zeigt sich genau dort, wo sie niemals zu finden sein sollte: in der Gemeinschaft der christlichen Gläubigen. In diesem Zusammenhang war die militante Unterstützung der evangelikalen Basis für das Phänomen Trump paradoxerweise ein Geschenk an die evangelikalen Eliten. Für die evangelikalen Führer war es nur zu einfach, das simplifizierte progressive Narrativ zu übernehmen: Jeder einzelne Trump-Wähler ist ein ignoranter Fanatiker und, wenn er sich zum Christentum bekennt, auch ein Heuchler. Der Gedanke, dass nicht alle, die für Trump gestimmt haben, dies mit Begeisterung taten, hatte keinen Platz in der Interpretation der säkularen Elite von 2016; und er passte auch nicht in das therapeutische Narrativ, das von vielen Anti-Trump-Christen übernommen wurde. Zuzugeben, dass Trumps Sieg kein Produkt des weißen christlichen Nationalismus oder eines ähnlich simplen Konstrukts war, hätte ein schmerzhaftes Maß an Gewissensprüfung und Selbstkritik seitens der leitenden Schichten der Gesellschaft im Allgemeinen und des Christentums im Besonderen erfordert. Und das machte die beiden extremen Lager, Trump und Anti-Trump, ähnlich in ihrer moralischen Klarheit, mit der jedes glaubte, seine Gegner zu verstehen.“
Die Präsidentschaft von Donald Trump ist (vorerst?) Geschichte. Aber heißt das, dass die Lage sich jetzt wieder beruhigen und die gespaltene Christenheit wieder aufeinander zugehen kann? Trueman ist skeptisch:
„Nach Trump hat sich die politische Landschaft verschoben, aber das Spiel ist das gleiche. … Es ist daher nicht überraschend, dass die Mitglieder des christlichen Establishments in Fragen der Rasse so viel Empörung äußern. Dieses Thema bietet den christlichen Leitern die perfekte Gelegenheit, sich (ausnahmsweise) auf die “gute” Seite einer moralischen Debatte zu stellen, die in der breiteren Gesellschaft für Aufruhr sorgt, und sich damit auf die Seite der kultivierten Verächter zu stellen. Außerdem kann die ältere Generation der jungen Generation versichern, dass die Kirche kein Hort reaktionärer Fanatiker ist, wie ihre säkularen Altersgenossen glauben machen wollen. … Dennoch agieren führende antirassistische Christen innerhalb der von den kulturellen Progressiven gesetzten Parameter. Polizeieinsätze im Jahr 2018 waren für den Tod von weniger als dreihundert Afroamerikanern verantwortlich, während im selben Jahr mehr als 117.000 afroamerikanische Babys abgetrieben wurden. Man sollte meinen, dass dieser extreme Unterschied (390 zu eins) die Abtreibung in den Mittelpunkt der christlichen Rassismuskritik rücken würde. Doch in den unzähligen Meinungsbeiträgen und Blogposts über George Floyd und die kritische Rassentheorie, die im Jahr 2020 die christlichen Internetseiten des Establishments beherrschten, wurde das Thema Abtreibung erstaunlich selten erwähnt. Das ist nicht überraschend: Die Verurteilung der Abtreibung wäre nicht nach dem Geschmack der kultivierten Verächter gewesen. Lassen Sie es mich unverblümt sagen: Mit empörter Stimme über Rassismus innerhalb der von der “Woke Culture” gesetzten Grenzen zu sprechen, ist ein ausgezeichneter Weg, um nicht über die dringenden moralischen Fragen zu sprechen, bei denen sich Christentum und Kultur gegenüberstehen: LGBTQ+-Rechte und Abtreibung. … Die christlichen Eliten versuchen, die säkulare Welt davon zu überzeugen, dass sie gar nicht so schlecht sind – nicht mehr im Sinne der aufklärerischen Vorstellungen von Vernunft, sondern im Sinne der durcheinandergeratenen moralischen Voreingenommenheiten unserer Zeit.“
Aber wird diese Strategie wirklich dazu führen, dass das Christentum gesellschaftliche Anerkennung findet? Trueman weist darauf hin, dass auch das weitreichende Entgegenkommen Friedrich Schleiermachers letztlich nur wenig dazu beigetragen hat, „die kulturelle Verachtung des Christentums durch die Elite zu mildern“. Deshalb rät Trueman evangelikalen Leitern dringend, zu einem biblischen Realismus zurückzukehren:
„Christen sollten nicht erwarten, von der Welt warmherzig umarmt zu werden. Sie sollten nicht einmal erwarten, toleriert zu werden. In Johannes 15 sagt Christus zu seinen Jüngern:
Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich gehasst hat, bevor sie euch gehasst hat. Wenn ihr von der Welt wärt, würde die Welt euch lieben wie ihre eigenen Leute; weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt.
Auf die Worte Jesu zu hören, ist keine Entschuldigung für schlampige Forschung und auch keine Entschuldigung für Gleichgültigkeit gegenüber Ungerechtigkeit und Bösem. Es ist auch keine Rechtfertigung dafür, diejenigen, mit denen wir nicht einverstanden sind, mit Verachtung zu behandeln. Christen, die sich verachtenswert verhalten, sollten sich nicht beschweren, wenn sie verachtet werden. Aber die Warnung Jesu erinnert uns auf jeden Fall daran, dass wir unseren kulturellen Verächtern nicht glauben müssen; noch weniger sollten wir uns auf ihre Seite gegen diejenigen stellen, die tatsächlich unseren Glauben teilen. Das Christentum sagt der Welt, was sie nicht hören will. Wir sollten nicht erwarten, von denen umarmt zu werden, deren Gedanken und Taten den Wahrheiten unseres Glaubens widersprechen. Wir sollten auch nicht versuchen, unseren Glauben schmackhafter zu machen, sonst verliert das Salz seinen Geschmack. Sich den Forderungen der Welt anzupassen ist ein Irrweg, wie jeder wissen sollte, der Schleiermacher liest.“
Trueman beschreibt in seinem Artikel natürlich die Situation in den USA. Unabhängig davon, inwieweit man Trueman zustimmen möchte, stellt sich die Frage: Inwieweit lässt sich die dortige Situation auf den deutschsprachigen Raum übertragen? Denn ohne Zweifel ist die Situation nicht identisch. Die „Woke-Culture“ ist bei uns (noch?) nicht ganz so prägend wie in den USA. Trotzdem fielen mir beim Lesen des Artikels eine ganze Reihe von Äußerungen christlicher Leiter und Influencer ein, die recht nahtlos in das Bild passen, das Trueman zeichnet. Während die christliche Kritik bei Themen wie Abtreibung oder Sterbehilfe immer leiser zu werden scheint, wird das Werben zur Übernahme „woker“ Positionen in das Christentum im gleichen Maße lauter wie die immer pauschaleren Distanzierungen von den angeblich für das Christentum so schädlichen „Fundamentalisten“. Und immer häufiger wird behauptet, dass man mit dieser „Modernisierung“ des Christentums doch nur das Christentum retten und gerade auch die Gebildeten mit dem Glauben versöhnen wolle. Sind bei uns also ganz ähnliche Dynamiken im Gange? Jedenfalls meine ich: In allen Diskussionen zu den Ursachen wachsender Gräben innerhalb der christlichen Landschaft sollte die Stimme Truemans unbedingt aufmerksam gehört werden. Und gerade auch freikirchliche Christen sollten sich die Frage stellen: Wollen wir wirklich der evangelischen Kirche folgen und den Weg Schleiermachers gehen?
Der Artikel „The Failure of Evangelical Elites“ von Carl R. Trueman ist bei “First Things” erschienen: https://www.firstthings.com/article/2021/11/the-failure-of-evangelical-elites
Die Ursachen für die Schwäche des Christentums sind nicht erst bei Schleiermacher festzumachen. Schon viel früher oder überhaupt waren es nur wenige Menschen, die sich die Erlösung so zu Eigen machen konnten, dass sie die befreiende Wirkung zum Ausdruck bringen konnten. Entsprechend der Herrschaft des „Fleisches“ war die Erkenntnis der Wahrheit mager. Man verstand nicht die eigenen Dogmen. Deshalb hatte man der Aufklärung und den fortschreitenden Naturerkenntnissen nichts entgegenzusetzen. Fortan war Christentum öffentlich eigentlich nur in einer Abwehrhaltung, anstatt progressiv, wie zu Beginn.
Obwohl nach Schleiermacher mit den idealistischen Philosophen eine tiefe Erkenntnis übersinnlicher Zusammenhänge offenbar wurde, ging das anscheinend an der christlichen Theologie – die dadurch wichtige Korrekturen und Ermutigung hätte erfahren können – vorüber.
Also war Christentum fortan, öffentlich gesehen, nur noch Moralanstalt. Und diese Moralität interessiert eben heute die Gesellschaft auch nicht mehr, weil man diese Moral nicht erkenntnistheoretisch unterfüttern kann.
Statt gesellschaftlichen Einfluss nehmen zu wollen – was aus der Position der Schwäche unmöglich ist – sollte man persönlich nach VERINNERLICHUNG streben, damit man selbst in der Erkenntnis und der Erlösung stark wird.
Was nützt alles predigen, wenn man selbst immer wieder versagt? Wie schon Nietzsche richtig erkannte: „Erlöster müssten mir die Christen aussehen, wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte.“ Was hindert uns daran? Keine Gesellschaft, nichts – außer unsere Liebe zum „Fleisch“!
https://manfredreichelt.wordpress.com/2018/04/09/verstaendnis-und-orientierung-durch-vertiefung/
In dem Beitrag von Trueman ist nur ein Teil der aktuellen Problematik auf jeden für Europa abgedeckt. Ich will da noch ergänzen;
– Die Autonomie des einzelnen hat ein sehr großes Ausmaß eingenommen. Z. B. sagt man heute nicht mehr gern Leiterschaft sondern lieber Mentoring, weil das nicht so untergeordnet wirkt. Auch ist die Bereitschaft sehr gering sich Kritik zu stellen. Auch brauchen nicht alle Christen nach ihrer Meinung mehr eine Gemeinde.
– Ein ähnlicher Aspekt ist, dass durch die Kundenzentriertheit in der Wirtschaft die Gemeinden immer mehr als Bedürfniserfüller angesehen werden.
– zu dem Thema woke kommt ja hinzu, dass es oft in den Haltungen nicht um rational begründete Argumente geht, sondern wenn etwas nicht meinem Gefühl entspricht lehne ich etwas ab. Das erschwert natürlich auch die Arbeit an der Schrift.
Viele Gemeinden versuchen diesen Herausforderungen irgendwie bewusst oder unbewusst zu begegnen. Willst Creek ist sicher ein frührd Ergebnis . Nur diese Methoden funktionieren eben nur zum Teil. Wenn wir ernsthaft an die Schrift Herangehen hat sie absolute Wahrheiten und autoritative Anteile, was dem modernen Menschen zuwider ist. Die Gemeinde Jesu hat eine geistliche Chance nur dann wenn sie in erster Linie ihrem Herrn gefallen will ind nicht dem Zeitgeist. Moderne Formen muss das aber nicht ausschließen.
Konservativ-Evangelikale spalten sich seit 50 Jahren kontinuierlich lauthals selbst, während andere die ARBEIT machen. Leise voran schreitend und ohne zu lammentieren.
Die Evangelikalen sind doch ohnehin keine einheitliche Gruppe, die zentral gesteuert wäre, sondern besteht aus sehr vielen einzelnen Gemeinden und Gruppen, die meist von einander unabhängig sind und wo jeweils die Leitungsebene das Sagen hat.
Es gibt da jedenfalls keine Instanz wie den Papst, der zusammen mit den Bischöfen bestimmt, was geglaubt werden muss und was nicht. Demnach darf man sich auch nicht wundern, dass es keine Einheit unter den Evangelikalen gibt. Die gibt es heutzutage auch nicht mehr bei Katholiken, auch wenn es da nach wie vor eine verbindliche Lehre gibt, an die sich heute die meisten auch nicht mehr halten.
Und was den Trump angeht, der zwar einen schwierigen Charakter hat, hat dieser auch nicht alles falsch gemacht. Er war ja auch nicht allein derjenige, der alles regelte, sondern hatte in seinem Vize auch einen Mann, der dem christlichen Glauben sehr nahe stand. Trump war gegen die Abtreibung und hat einiges dafür getan, dass denen die Gelder entzogen wurden, die die gefördert haben. Immerhin hat er im Gegensatz zu seinen Vorgängern auch keinen Krieg angefangen.
Einen Krieg mit einer anderen auswärtigen Macht hat Trump zwar nicht vom Zaun gebrochen, obwohl solches mit z. B. dem Iran nur äußerst knapp vermieden wurde.
Aber Trump befeuert militante Anhänger bei deren Sturm auf das Capitol mit Worten – es gab bürgerkriegsartige Zustände.
Trump war als Präsident eon schlimmer Finger, keine Frage. Nur die Drohnen, die von Ramstein gesteuert werden fliegen im Nahen Osten egal wer in Washington an der Macht ist( was im übrigen in Deutschland so gut wie niemand aufregt). Und ob Biden nicht genauso eine america first Politik macht muß sich erst mal zeigen. Auf jeden Fall droht Biden auch mit Krieg und sein Umgang mir den europäischen Verbündeten ist bis jetzt auch nicht immer so sehr nett….
Carl Trueman hat einen fast prophetischen Blick. Seine Zwischenrufe sind wirklich hilfreich, um seine eigene Motivation zu reflektieren.
Dennoch glaube ich, dass auch sein Artikel nicht vollständig ist: Sehr viele Evangelikale sprechen heute über Immigration, Rassismus oder die transparente und schonungslose Aufklärung von Missbrauch – nicht, weil sie „woke“ sind, sondern weil durch die gesellschaftlichen Diskussionen auch die blinden Flecken in den eigenen Reihen aufgedeckt werden und man sich diesen ehrlich stellt. Wir als Evangelikale haben ja tatsächlich Defizite in all diesen Fragen. Man darf aufrichtig schockiert sein, wenn man latentem Alltagsrassismus in unseren Gemeinden begegnet oder wenn man von Vertuschungen sexuellen Missbrauchs erfährt, nur um den Ruf der Gemeinde nicht zu beschmutzen. Jede Generation hatte Themen, die gesellschaftlich en vogue waren und gleichzeitig auch von Christen geteilt werden konnten (man denke an die Friedensbewegung etc). Wir sollten aufpassen, dass wir nicht dem Zeitgeist hinterherhecheln, aber auch nicht aus Prinzip alle Themen ablehnen, die die Gesellschaft uns aufdrängt, wie es auf fundamentalistischer Seite leider geschieht. Stattdessen macht es doch Sinn auf die Anfragen der Gesellschaft einzugehen und eine fundierte biblische Antwort in Liebe und Gnade anzubieten.
Von Trueman nehme ich mit, dass ich mich selbst kritisch hinterfragen will. Tue ich es aus Liebe zu Gott oder aus Liebe zu mir selbst, um mehr Ansehen in der Welt zu haben? Schaue ich verächtlich und mit einem Überlegenheitsgefühl auf meine Mitchristen, damit ich über die Distanz zu ihnen mehr Relevanz in der Welt gewinne?
Die neutrale sprachliche Bedeutung des englischen Begriffes „woke“ ist „wachsam sein“.
„Woke“ hat sich ursprünglich zu einer Marke entwickelt, die sich für Gerechtigkeit und sozialen Frieden in gewaltfreiem Entgegentreten gegen Rassismus, Diskriminierungen und Unterdrückung von Randgruppen auch unseres Landes etabliert hat.
Dabei ist „woke“ zu einer öffentlichen Meinung mit entsprechender konkreter Zielsetzung geworden.
Diese gute Marke „Woke“ wurde z.B von Rassisten und anderen Eiferern verschiedener Richtungen gemeinsam und mit lautstarker verbaler Gewalt geächtet, verballhornt und von Fanatikern und Rassismusleugnern verleumderisch in eine linksextreme Ecke gestellt. Der nüchtern sachliche Begriff „woke=wachsam sein“ wurde missbraucht, um Rassismus und anderen Bösartigkeiten Tür und Tor zu öffnen. Besonders in den USA unter Trump mit ihrem Rassismusproblem.
Mit anderen Worten: „Wachsam sein“ (woke sein) wird von Gegnern des „wachsam seins, also woke seins“ herunter gespielt in der Weise, dass es gar kein Rassismusproblem gäbe und man „woke sein“ deshalb einfach nur lächerlich macht, weil es gar kein Rassismus- bzw. Minderheitenschutzproblem gäbe.
Die Selbstbescheibung als „woke“ durch engagierte Christen gemeinsam mit anderen Menschen ist jedoch bereits rückläufig und wird zunehmend ersetzt durch versachlichende Beschreibungen. Diese beziehen sich mit Einfühlungsvermögen auf gerechte Behandlung von verfolgten Minderheiten durch christliche Nächstenliebe. Der durch Fanatiker verbrannte Begriff „woke“ verschwindet somit mehr und mehr von der Bildfläche.
Was können wir tun in unserem Land, auch in Bezug zu verfolgten Minderheiten, ebenso wie auch betreffs Migranten?
Das größte Symbol der Christenheit ist kein Gebäude, kein Kirchturm, kein Gemeindesaal sondern die Liebe:
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (3. Mose 19, 18)
3.Mo 19,33.34 Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst. (3. Mose 19, 33.34)
Mal 3,5 Und ich will zu euch kommen zum Gericht und will ein schneller Zeuge sein gegen die Zauberer, Ehebrecher, Meineidigen und gegen die, die Gewalt und Unrecht tun den Tagelöhnern, Witwen und Waisen U-N-D die den Fremdling drücken und mich (dabei) nicht fürchten, spricht der HERR Zebaoth.
Und Jesus geht noch weiter:
Liebet (sogar) eure Feinde
…..und auch die, die gar nicht mal eure Feinde sind, diejenigen die ihr nur für eure Feinde haltet….